Rinderzucht Fleckvieh: Die BTK hat eine AG zur Diskussion des Begriffs ›Qualzucht bei Nutztieren‹ gegründet und kritisiert enorme Leistungssteigerungen, die mit Krankheiten einher gehen. Wann beginnt für Sie beim Milchvieh ›Qualzucht‹ und warum?
Martens: Die Milchleistung ist in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen. Laktationsleistungen von 10 000 bis 12 000 kg Milch oder mehr sind keine Seltenheit. Gleichzeitig ist die Nutzungsdauer auf weniger als drei Laktationen gesunken. Mehr als die Hälfte aller Tiere erkranken mehr als einmal pro Laktation, überwiegend zu Beginn. Zudem ist die Zahl der im Bestand verendeten Kühe auf international etwa sechs Prozent gestiegen. Aufgrund dessen kommt die Milchleistung als mögliche Ursache infrage, wissenschaftlich ist das aber nicht in jedem Fall haltbar.
Die meisten Kranheiten treten zu Laktationsbeginn auf
Rinderzucht Fleckvieh: Welche Krankheiten treten durch zu hohe Milchleistungen auf und wie entstehen sie?
Martens: Etwa die Hälfte der Erkrankungen treten im ersten Monat nach der Kalbung auf. In dieser Zeit ist der Stoffwechsel durch den raschen Anstieg der Milchleistung und den dazu notwendigen Nährstoffbedarf stark belastet. Dieser wird dann zu einem erheblichen Teil durch Mobilisation von Reserven gedeckt (Output > Input = negative Energiebilanz (NEB)). Wichtige Funktionen werden eingeschränkt und die Krankheitsgefahr steigt.
Ein Bespiel dafür ist Ketose: Das Mobilisieren von Fett setzt Fettsäuren frei, die für die Milchsynthese und in der Leber zur Energiegewinnung herangezogen werden. Diese Energiegewinnung ist aber nur möglich, wenn für den Abbau der freien Fettsäuren genügend Kohlenhydrate (Glukose) zur Verfügung stehen. Die Verwendung von Glukose hat aber Priorität für die Milchbildung, somit ergibt sich ein Engpass für den Abbau der Fettsäuren und die Gefahr einer Leberverfettung und Ketose mit dem Anstieg von Betahydroxybuttersäure (BHB) im Blut. Bis zu 40 % der Kühe haben in den ersten Laktationstagen erhöhte BHB-Werte, die mit Krankheiten wie Labmagenverlagerung, Mastitis oder Fruchtbarkeitsstörungen korrelieren.
Milchtyp mit erhöhten Krankheitsrisiken
Rinderzucht Fleckvieh: Gibt es Unterschiede zwischen den Rassen?
Martens: Die meisten Erkenntnisse stammen aus Untersuchungen mit Holstein Friesian (HF) Kühen. Im Hinblick auf den Begriff ›Qualzucht‹ ist jedoch eine Spezifizierung möglich. Der sogenannte ›Milchtyp‹ von HF-Kühen – hochbeinig, mager mit sichtbaren Rippenbögen - wird in der tierzüchterischen wissenschaftlichen Literatur eindeutig wegen der erhöhten Krankheitsrisiken als Zuchtziel abgelehnt, auch wenn solche ›Milchtypen‹ als Siegertiere auf den Holsteinschauen immer noch weltweit prämiert werden.
Rinderzucht Fleckvieh: Wo liegen die Vorteile von Fleckvieh gegenüber HF-Kühen?
Martens: Der eindeutige Vorteil ergibt sich aus dem Festhalten am Zuchtziel Zweinutzungsrind – Milch und Fleisch. Die Muskulatur ist ein Stoffwechselpuffer, der dazu beiträgt, Belastungen aufzufangen. Die Mobilisation von Körperreserven in der Phase der NEB basiert nicht nur auf dem Körperfettabbau sondern, auch – bei Bedarf – auf dem Abbau von Muskulatur. Kühe dieser Art sind einfach robuster.
Zu große Kühe machen mehr Probleme
Rinderzucht Fleckvieh: Sehen Sie auch kritische Entwicklungen beim Fleckvieh?
Martens: Auch beim Fleckvieh gibt es die Tendenz zu größeren Tieren, die mehr Futter aufnehmen und dann mehr Milch geben. Abgesehen von den formalen Schwierigkeiten im Melkstand oder in den Liegeboxen zeichnen sich diese Tiere nicht durch eine bessere Gesundheit aus. In der Veterinärmedizin wird dafür der Begriff des asymmetrischen Wachstums benutzt, die Entwicklung aller Organe und Funktionen erfolgt dabei nicht proportional zur Größe und kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.
Rinderzucht Fleckvieh: Es gibt viele Herden mit hoher Milchleistung, wenig Erkrankungen und langer Nutzungsdauer. Wie erklären Sie das?
Martens: Die generelle Problematik unterliegt einer Normalverteilung und es ist daher nicht überraschend, dass Kühe und ganze Herden den Ansprüchen gewachsen sind. Ausschlaggebend ist dabei ein Management, das alle Faktoren beachtet und Gesundheitsrisiken reduziert.
Gesundheitszuchtwerte könnten Abhilfe schaffen
Rinderzucht Fleckvieh: Die genomische Selektion macht es möglich, genetische Gesundheitsrisiken zu erkennen und zu reduzieren. Wie beurteilen Sie das?
Martens: Mit der genomischen Selektion lassen sich ererbte Krankheitsdispositionen erkennen. Damit sind signifikante Verbesserungen bei ausgewählten Krankheiten möglich, die aber noch zu belegen sind.
Am Beispiel der Labmagenverlagerung lässt sich das aufzeigen. Man kann davon ausgehen, dass die Disposition für die Labmagenverlagerung durch Mutationen in das Genom unbemerkt aufgenommen wurde, durch die bevorzugte Selektion auf einen großrahmigen Milchtyp mit hoher Einsatzleistung begünstigt wird und nun durch Präzisierung des Nachweises der genomischen Veränderungen wieder entfernt werden kann.
Meine Vermutung ist, dass auch die hohe Inzidenz von Mastitis oder Lahmheiten eine genetische bedingte Ursache hat. Die Nagelprobe steht aber noch bevor: Wie wird mit der negativen genetischen Korrelation zwischen Milchleistung und zu geringer Futteraufnahme speziell in der Frühlaktation umgegangen? Ohne überzeugende Lösung dieses Gegensatzes werden weiterhin genetische Krankheitsrisiken bei hohen Milchleistungen in der Frühlaktation bestehen.