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Kommentar

Wenn die Angst vor Risiken die Gesellschaft lähmt

Demo gegen Gentechnik und Glyphosat
am Freitag, 11.12.2020 - 09:35 (1 Kommentar)

Je näher der Corona-Impfstoff rückt, desto impfunwilliger werden die Deutschen. Das liegt auch an der jahrelang geschürten Angst vor modernen Technologien. Ein Kommentar.

Corona hat die Welt noch immer fest im Griff. Die große Hoffnung der Gesundheitsexperten liegt in den Impfstoffen, die auch hierzulande bald zur Verfügung stehen werden und die uns in den nächsten Monaten unseren unbeschwerten Alltag zurückbringen könnten. 

Doch je näher die Zulassung dieser Medikamente rückt, umso geringer wird die Impfbereitschaft. Laut einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens Kantar vom November 2020 wollen sich in Deutschland nur noch 35 Prozent der Erwachsenen definitiv impfen lassen. Im Juni dieses Jahres waren es noch 39 Prozent – und das, obwohl die Erkrankungs- und Todeszahlen in den vergangenen beiden Monaten enorm in die Höhe geschnellt sind.

Noch impfunwilliger sind laut Kantar unter den großen Industrienationen nur noch Frankreich (sicher Impfwillige von 29 auf 21 Prozent gesunken), Singapur (aktuell 28 Prozent ohne Vergleichsdaten aus dem Juni) und die USA (von 47 auf 30 Prozent gesunken).

Infratest kommt zeitgleich auf ähnliche Zahlen: Insgesamt 37 Prozent der Deutschen wollen sich laut dieser Umfrage auf jeden Fall impfen lassen. Bemerkenswert dabei die Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Während sich in der Generation der über 65-Jährigen 46 Prozent für eine Impfung entschieden haben, liegt die Quote der Impfwilligen bei den 18- bis 39-Jährigen bei lediglich 28 Prozent, also nur gut einem Viertel aller Befragten. 

Kämen also tatsächlich nur die Menschen zu den Impfzentren, die das momentan sicher beabsichtigen (die Hoffnung der Virologen liegt bei den noch nicht sicher Entschlossenen), wäre der Effekt der Covid-19-Immunisierung viel geringer als erhofft. Amesh Adalja vom Johns Hopkins Center for Health Security schätzt für die USA, dass eine Herdenimmunität eine um mehr als 70 Prozent durchgeimpfte Bevölkerung erfordern würde. Nicht nur die Amerikaner sind weit von diesen Werten entfernt.

Zu sorglos oder zu misstrauisch?

Woran liegt das? Natürlich kann man die Skepsis der vornehmlich jungen Leute damit erklären, dass die Krankheit bislang vor allem Alte gefährdet. 86 Prozent der mit Covid-19 Verstorbenen hierzulande waren 70 Jahre und älter. Bei Menschen unter 40 liegen die Sterberaten extrem niedrig und auch Komplikationen treten selten auf.

Doch auch ein anderer Grund für die Impfskepsis liegt nahe: In vielen Industrienationen breitet sich ein Grundmisstrauen gegenüber neuen wissenschaftlichen Methoden aus. "Pharma" und "Chemie" werden zunehmend zu undifferenzierten Feindbildern. Und Deutschland gehört hier leider inzwischen zu den führenden Nationen.

Ob es um Gentechnik geht, um Pflanzenschutz oder um Schulmedizin: Die erste Reaktion vieler (vor allem junger) Deutscher ist Ablehnung. Der Wissenschaftskabarettist und Physiker Vince Ebert schreibt dazu: "Große Bevölkerungsschichten haben eine eindeutig wissenschaftsfeindliche Grundhaltung. So wird seit Jahrzehnten die Biotechnologieforschung verzögert, verhindert und sogar öffentlich diffamiert. Pharmariesen verkörpern das Böse, Gentechnik gilt als Hochrisikotechnologie, und Stammzellenforschung wird pauschal als unethisch bezeichnet."

Und leider sind es vor allem Menschen mit höherem Schulabschluss, die diese Entwicklung anführen. Vince Ebert: "Ein kulturell gebildeter Mensch in Deutschland kennt sich aus mit Kant, Mozart oder Schiller. Aber nicht mit Heisenberg, Darwin oder Gauß. Bildung und Kultur sind Arte-Themenabende. Über serbokroatische Käseschachtelfabrikanten. In Schwarz-Weiß." 

Die Verhinderungspartei

Befeuert wird diese Entwicklung vor allem aus Reihen der Bündnis/Grünen. Die Partei fährt seit Jahren gut mit dem Prinzip Angst und Ablehnung und dem Versprechen, als einzige Farbe in der politischen Landschaft die Gesellschaft konsequent vor Gefahren zu schützen.

Gerade eben hat der Grünen-Parteitag seinen Standpunkt zur grünen Gentechnik neu verortet. Auf den ersten Blick klang das nach Bewegung in der Materie: Die "Freiheit der Forschung" sei auch auf diesem Wissenschaftsgebiet zu gewährleisten, hieß es. Aber auch, dass Gefahren auszuschließen, strenge Zulassungsverfahren zu gewährleisten sowie das Vorsorgeprinzip, Risikoprüfungen und eine strenge Regulierung notwendig seien. Als ob es all das nicht schon lange gäbe.

Der Grüne Bundestagsabgeordnete Harald Ebner machte unmittelbar nach Veröffentlichung des neuen Grundsatzprogramms am 21. November auf Twitter klar: "Grüne bleiben Partei der Vorsorge und Technikfolgenabschätzung und sichern weiterhin Risikoprüfung, Kennzeichnungspflicht und Wahlfreiheit bei alter wie neuer Gentechnik für kommende Generationen. Kein Paradigmenwechsel." Die "zwei Milliönchen" Zuschuss für Risikoforschung im Etat der Bundesregierung seien viel zu wenig gegenüber den Summen, die in die Entwicklung neuer Technologien gesteckt werden.

Was Ebner dabei bewusst vergisst: Weltweit wird seit Jahrzehnten nach Gefahren durch grüne Gentechnik gesucht. Bislang ohne Erfolg. Und: Risikoabschätzung ist ein Teilgebiet bei der Entwicklung neuer Technologien und damit natürlich weniger kostenaufwendig als der Gesamtprozess.

Einträglicher Alarmismus

Doch ob die Gefahren, vor denen man die Menschen retten muss, real sind oder nicht, spielt eigentlich keine Rolle. Gefühlte Risiken eignen sich für den Kampf um die Wählergunst mindestens ebenso gut wie echte.

Das zeigt exemplarisch der Jubel der grünen Filterblase um den kruden Alarmismus von Organisationen wie dem Umweltinstitut München. Ob Glyphosat im Bier, in Eiscreme oder in der Luft – die Angstmacher können sich darauf verlassen, dass ihr Zielpublikum nicht nachrechnet, mit welchen Nachweismengen hier Panik verbreitet wird. Schließlich fährt man seit Jahren ziemlich gut mit der praxisfernen Forderung nach absoluten Nullmengen bei allem, was dem Menschen regelmäßig als "Gift" präsentiert wird. Das ist ja auch einfacher, als sich mit Gefährdungspotenzialen und Schadgrenzen auseinanderzusetzen. 

Der Verbraucher, den sie schufen ...

80 Prozent der Verbraucher wollen keine Gentechnik, argumentieren die Grünen. Und 77 Prozent lehnen Pflanzenschutzmittel ab, ergab eine Befragung der Initiative enkeltaugliche Landwirtschaft, die auch für besagte fragwürde Veröffentlichung zu PSM-Rückständen in unserer Luft verantwortlich zeichnete.

Die Zahlen dürften stimmen. Denn was bei Verfahren wie CRISPR/Cas eigentlich passiert oder wie die Alternativen zum Verbot von Pflanzenschutzmitteln aussehen, fragt in solchen Untersuchungen ja zum Glück niemand. Dagegen sein ist einfach. Um die Folgen sollen sich diejenigen Gedanken machen, denen man gleichzeitig bei der Risikobeurteilung jegliche Fachkompetenz abspricht. Landwirte zum Beispiel.

Das ist für die hiesige Agrarwirtschaft ärgerlich. Doch akut entsteht für unsere Gesellschaft daraus keine Gefahr. Zu Essen gibt es schließlich noch immer reichlich. Aber das ewig geschürte Misstrauen gegen "Big Pharma", "Chemiemultis" und die "Agrarlobby" hat auch die Saat gelegt für den Impfunwillen der Deutschen. Nicht erst seit Corona, die Impfbereitschaft gegen Masern beispielsweise sinkt seit Jahren. Aber Corona könnte zum Prüfstein dieser Entwicklung werden.

Von den sonst so entschlossenen Gentechnik-Warnern hört man übrigens im Zusammenhang mit der Covid-19-Impfung kaum etwas, obwohl der Impfstoff selbstredend auch unter Anwendung dieser Verfahren entstanden ist. Möglicherweise ist auch Alarmisten manchmal das Hemd näher als die Jacke.

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