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Gesundheit

Depressionen: Wenn die Gefühle einfrieren

aeltere Frau schaut traurig aus dem fenster
Portrait Sabine Leopold agrarheute
Sabine Leopold, agrarheute
am Dienstag, 03.11.2020 - 12:47 (Jetzt kommentieren)

Viele Menschen leiden unter Depressionen, aber nur wenige sprechen darüber. Gerade Landwirte tun sich bei psychischen Problemen schwer. Dabei ist die Krankheit kein Zeichen von Schwäche. Und sie ist behandelbar.

"Seit ich ein Teenager war, quälte mich das Gefühl, anders zu sein als die Menschen um mich herum. Irgendwie schlechter“, erzählt eine Landwirtin am Telefon. „Als ich im Internet auf einen Selbsttest für psychische Krankheiten gestoßen bin und nahezu alle Kriterien erfüllte, war ich erschrocken – und auch erleichtert. Endlich hatte mein Problem einen Namen: Depressionen. Eine Krankheit, unter der auch andere Menschen leiden. Und die man behandeln kann. Da habe ich mir Hilfe geholt.“

Das, was sich die junge Frau sich da in einem zweistündigen Gespräch von der Seele redet, ähnelt in vielen Punkten den Geschichten anderer Depressionskranker. Vor allem das geringe Selbstwertgefühl begleitete zeitweise fast jeden von ihnen – manch einen, bis er fast daran zerbrach. Die Erkenntnis, krank zu sein, kam bei allen erst nach Jahren.

Das liegt unter anderem daran, dass psychische Erkrankungen bis heute irgendwie als "peinlich" oder "anrüchig" gelten. Über ein gebrochenes Bein oder eine Lungenentzündung zu reden, fällt den wenigsten schwer. Krankheiten der Seele dagegen werden immer noch als Schwäche interpretiert und deshalb vor Außenstehenden versteckt – vor allem in einer "Welt der harten Kerle" wie der Landwirtschaft.

Dabei sind Depressionen alles andere als ein Schwächezeichen. Und sie betreffen bei Weitem nicht nur Versager und Verlierer, sondern auch berühmte und erfolgreiche Personen. 

Erfolgreich trotz Depressionen

Winston Churchill

Einer davon war der britische Premierminister Winston Churchill. Der selbstbewusste und redegewandte "Macher" auf weltpolitischer Bühne konnte sich innerhalb weniger Stunden in ein unsicheres Nervenbündel verwandeln, wenn ihn eine depressive Phase traf. In seinen Tagebüchern beschrieb er die Krankheit als "seinen schwarzen Hund", der ihn stets begleitete und den man bestenfalls in Schlaf versetzen, aber niemals ganz loswerden konnte.

Einen Leidensgenossen fand Churchill in Charlie Chaplin. Auch wenn die beiden sonst wenig verband: Über ihre Depressionen konnten sie in gemeinsamen Spaziergängen stundenlang miteinander diskutieren.

Auch bei anderen prominenten Persönlichkeiten weiß man heute von dieser Krankheit, mit der sie ein Leben lang rangen: Abraham Lincoln, Konrad Adenauer, Willi Brandt, Marylin Monroe, Buzz Aldrin, Joanne K. Rowling, Sven Hannawald, Sebastian Deisler – um nur einige zu nennen. Sie alle hatten oder haben mit Depressionen zu kämpfen und waren dennoch auf ihrem Gebiet höchst erfolgreich.

Zusammenreißen hilft nicht

Weshalb also hängt dieser Krankheit noch immer dieser Makel des Versagens an? 

Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, sagt, dass die Krankheit oft lediglich als fehlende Motivation oder als Folge belastender Lebensumstände gedeutet wird. Das hat immer irgendwie einen Anklang von Selbstverschulden oder Unvermögen. Nicht selten hören Kranke, sie müssten sich "einfach mal zusammenreißen". Bei schweren Depressionen ist das den Erkrankten aber auch bei bestem Willen nicht mehr möglich.

"Depressionen können jeden treffen, vorausgesetzt, es besteht eine entsprechende Veranlagung. Diese kann vererbt oder erworben sein. Ist beispielsweise ein Elternteil betroffen, besteht ein um das Zwei- bis Dreifache erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken. Aber auch Traumatisierungen können zu einer Disposition führen“, erklärt Hegerl.

Sei eine derartige Veranlagung vorhanden, dann könnten äußere Belastungen als Auslöser fungieren. Die Rolle dieser Faktoren werde jedoch von Laien und unerfahrenen Ärzten deutlich überschätzt. Anders als oft vermutet, brauche es für einen Krankheitsschub nicht zwingend einen äußerlichen Anlass wie massive Überarbeitung oder eine familiäre Katastrophe. Die Krankheit könne quasi aus dem Nichts zuschlagen. Und manchmal, sagt Hegerl, seien sogar positive Erlebnisse der Zündfunke.

Depressionen müssen wie jede schwere Krankheit konsquent medizinisch behandelt werden. Die Mehrzahl der Erkrankten werden ambulant vom Hausarzt mit Antidepressiva therapiert. Ist die Depression schwer und hartnäckig, sollte aber ein Facharzt (Psychiater oder Nervenarzt) aufgesucht werden. Außerdem gibt es die sogenannten Psychologischen Psychotherapeuten. Das sind Fachkräfte mit einer Spezialausbildung, die wie Ärzte über die Kasse abrechnen können.

Häufig und folgenschwer

Ein anderer weitverbreiteter Irrtum ist, dass Depressionen selten sind. Etwa acht Prozent der erwachsenen Bevölkerung hierzulande erkranken jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression. Das sind über fünf Millionen Menschen! 

Doch nicht nur die Kranken selbst sind die Leidtragenden. Eine repräsentative Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ergab, dass mehr als 60 Prozent der Deutschen von Depressionen betroffen sind – entweder direkt als Erkrankter oder indirekt über Angehörige. Und Depressionen haben bei Weitem nicht nur psychische Folgen. Die Krankheit wirkt sich auf den ganzen Körper aus. Insgesamt, so Hegerl, sterben Depressionskranke im Schnitt zehn Jahre früher – bedingt durch eine drastisch erhöhte Suizidrate, vor allem aber auch durch begleitende Erkrankungen wie Herzinfarkte. 
Die Verbreitung zieht sich dabei über alle Altersklassen, bereits Kinder können erkranken. Frauen sind allerdings etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Vor allem genetische und hormonelle Hintergründe werden dafür verantwortlich gemacht. 

Dass in der öffentlichen Wahrnehmung diese Schere zwischen den Geschlechtern scheinbar noch viel weiter klafft, dürfte vor allem in unserem teils antiquierten Männerbild liegen. Gerade in ländlichen Regionen gilt für viele: Ein "echter Kerl" jammert nicht und krank ist man erst ab Kopf unterm Arm. Das ist bei fast jeder Krankheit gefährlich, bei Depressionen kann es fatal sein. Die Betroffenen gleiten nicht selten immer tiefer in ein Loch aus Selbstzweifel, Perspektivlosigkeit und emotionaler Starre.

Alle Gefühle wie eingefroren

Vor allem Letzteres ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass es sich tatsächlich um das Krankheitsbild einer Depression handelt. "Bei Depressionskranken sind alle Gefühle gedämpft, wie eingefroren. Die Patienten sind nicht nur unfähig, Freude zu empfinden. Auch Trauer, Wut oder Ärger finden nicht mehr statt. Die Emotionen folgen nicht mehr den Ereignissen", erklärt Ulrich 
Hegerl. 

Diese innere Versteinerung macht es Verwandten, Freunden und Kollegen oft schwer, die Lage des Erkrankten zu erkennen. Ein dörfliches Umfeld mit seiner stärkeren sozialen Einbindung und Nähe hat dabei Vor- und Nachteile. Einerseits fällt leichter auf, wenn sich Betroffene zurückziehen, andererseits animiert die Sorge, in der Nachbarschaft "ins Gerede zu kommen", Erkrankte und ihre Familien häufiger, das Problem unter der Decke zu halten.

Niemand muss hilflos leiden

Im eingangs erwähnten Telefonat beschreibt die junge Landwirtin auch ihre Sorge um den Vater: "Seit ich meine eigene Diagnose kenne, bin ich mir sicher, dass auch mein Vater Depressionen hat. Wie ich früher hat er immer wieder Phasen, in denen er kaum noch handlungsfähig ist. Aber er weist jeden Gedanken daran zurück. Für ihn ist das 'Psychoquatsch', den er sich nicht 'einreden' lässt."

Hegerl kennt diese Situation aus seiner Praxis und rät, Betroffenen trotzdem immer wieder Hilfe anzubieten und den Weg in eine professionelle Behandlung zu bahnen. Dazu sei oft viel Geduld nötig, es verhindere aber vielleicht, dass es zum Äußersten kommt. "Wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Angehöriger wird zur Gefahr für sich selbst oder andere, dann zögern Sie nicht, den Notarzt, die Polizei oder einen psychiatrischen Krisendienst zu rufen. So mancher Kranke lebt nur deshalb noch, weil ein Freund oder Verwandter rechtzeitig eingegriffen hat."

Depressionen können jeden treffen – direkt oder indirekt. Doch niemand muss unter den Symptomen hilflos leiden. Die Krankheit ist heute gut behandelbar. Zwar unterliegen Menschen, die einmal eine 
Depression hatten, immer dem Risiko eines erneuten Auftretens der Krankheit. Aber mit modernen Therapien kann das Rückfallrisiko deutlich gesenkt werden und Betroffene erhalten eine Lebensqualität zurück, auf die sie teils über Jahre verzichten mussten.

 

Weitere Beiträge zum Thema Depressionen einschließlich einiger Porträts Betroffener finden Sie im TopThema des agrarheute-Magazins, Ausgabe 11/2020.

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