Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Dr. Andreas Siegert vom Zentrum für Sozialforschung Halle e.V prangert die Verhältnisse im ländlichen Raum an. Wir sprachen mit ihm über Versäumnisse und Chancen in strukturschwachen Regionen.
„Gleichwertige Lebensverhältnisse“ für alle heißt es in Artikel 72 Grundgesetz. Wie sieht es mit der Umsetzung aus?
Gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, ist ja im Prinzip ziemlich eindeutig. Ich finde es dreist, wie der Verfassungsauftrag ignoriert wird. Wir vernichten die Werte von Häusern, Unternehmen und staatlicher Infrastruktur und nehmen Menschen ihre Heimat. Diese Menschen haben beim Kauf ihrer Häuser oder bei Unternehmensgründungen darauf vertraut, dass sie auch künftig eine vernünftige Infrastruktur haben. Und schleichend wird der Vertrag gekündigt, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen können.
Sie sind in Sachsen-Anhalt zu Hause. Wie ist dort das Leben auf dem Land ?
Der Sterbeüberschuss ist mittlerweile so groß, dass flächendeckend Fach- und Hilfskräfte oder Fußballvereinen die Spieler fehlen. Es gibt auch keine Kinder- und Jugendfeuerwehren mehr oder genügend Pflegekräfte, um unsere Alten zu versorgen.
Der öffentliche Personennahverkehr ist nicht bedarfsgerecht. Wenn eine 74-jährige Rentnerin aus Stangerode ins 34 km entfernte Sangerhausen zum Arzt muss, ist sie 10 Stunden unterwegs. Die staatliche Präsenz beschränkt sich vielfach auf das Ortsein- und -ausgangsschild. Im Grunde werden die Menschen vertrieben.
Wo liegen die Ursachen für diese Entwicklung?
Wir haben viel Wissen über den ländlichen Raum, das aber leider nicht gebündelt wird. Zuständigkeiten verteilen sich auf unterschiedliche Ministerien und Wissenschaftsdisziplinen. Entschieden wird über das platte Land im Umwelt-, Wirtschafts-, Bildungs-, Verkehrs- und Innenministerium. Oft wird der Abbau von Infrastruktur ökonomisch begründet: zu wenige Menschen, das lohnt sich nicht. Ein fataler Fehler mit weitreichenden Folgen für die gesamte Gesellschaft.
Wie sehen denn die Konsequenzen der Entvölkerung im Detail aus?
Erhebungen aus Hettstedt zeigen, dass Trink- und Abwasserpreise ohne Bevölkerungszuwachs bis 2025 um 40 Prozent steigen. Ärzte gehen bald in den Ruhestand und finden keine Nachfolger. Weniger Einwohner bedeuten weniger Mittel und erschweren die Gegensteuerung. Freiwillige Feuerwehren sind oft nicht einsatzfähig und Schulen müssen schließen. Solche Tendenzen befeuern regionale Abwärtsspiralen.
Was wäre ein Lösungsansatz?
Es gibt nicht die eine Musterlösung. Wir haben Menschen in Hettstedt erreicht, indem wir ihre Bedürfnisse ernst genommen haben. Wir haben Folgen der Entvölkerung gezeigt und damit einen Aha-Effekt ausgelöst. Vielen wurde klar, warum sie Zuwanderung brauchen. Der Bürgermeister hat mit Geflüchteten und Einheimischen Stadtführungen gemacht und Begegnungen ermöglicht. Ein arabischer Lebensmittel laden wurde eröffnet. Der Fußballverein hat Migranten in seine Mannschaft aufgenommen – und gewinnt wieder. In einem Theaterprojekt haben sich deutsche und geflüchtete Jugendliche kennengelernt. Die Abwanderungsrate in Hettstedt ist von 1,8 Prozent auf 0,18 Prozent im Jahr 2016 gesunken. Statt 200 wandern jetzt nur noch 20 Menschen im Jahr ab.
Das vollständige Interview finden Sie in der agrarheute/ Augustausgabe 2018.
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