Tragen Sie noch „Coronafrisur“? Manch einer hat ja während der vergangenen Lockdowns einfach wachsen lassen, wo noch was wuchs. Wenn Sie also jetzt das eine oder andere Strähnchen über haben, hätten Sie „Wir haben es satt!“ (WHES) damit eine Freude machen können.
„Ackergifte“ aus konventionellem Anbau gesucht
Der Zusammenschluss aus diversen Kritikern und Gegnern einer modernen Landwirtschaft warb wochenlang für seine Aktion: „Schnipp-schnapp, Strähne ab“.
Europaweit sollen Eigenhaarbesitzer ein bisschen was von ihrer Kopfpracht an ein französisches Labor schicken. Dort werde nach „wissenschaftlichen Standards“ auf 30 „Pestizide“ aus dem konventionellen Landbau getestet.
Keine wissenschaftliche Studie
Damit aber später keiner an Versuchsaufbau und Interpretation rumnörgelt, macht WHES auf seiner Website klar: „Es geht uns nicht darum, eine repräsentative, streng wissenschaftliche Studie zu machen.“ Vielmehr wolle man mit den Nachweisen die Forderung unterstützen, den „Irrsinn mit den Ackergiften zu beenden“.
150 Euro kostete der Test frei Labor, aber dank Crowdfunding war man auch schon mit 15 Euro (und der Abgabe diverser privater Daten) mit von der Partie.
Fragwürdige Interessen
Wer sich die Internetseite des Strasbourger Labors „Yootest“ genauer anschaut, bekommt allerdings so seine Zweifel, was dessen Intention angeht. Der Laden verkauft nämlich nicht nur teure Testkits für alle möglichen Gefahrenstoffe, Körpersubstanzen und Umweltmaterialien (für schlappe 700 Euro kann man beispielsweise Proben von Oberflächen in seiner Umgebung auf Covid-Viren untersuchen lassen), sondern scheint auch ganz dick im Geschäft mit Luftreinigern.
Ein Schelm, wer hier denkt, der Anbieter habe vielleicht ein gewisses Eigeninteresse an alarmistischen Testergebnissen.
Alarmismus vorprogrammiert
Daran, dass die Resultate in ein paar Wochen wie der bevorstehende Weltuntergang verbreitet werden, besteht wenig Zweifel.
Tatsächlich lassen sich in unseren Haaren ja zahlreiche Substanzen, denen wir in einem gewissen Zeitraum ausgesetzt waren, feststellen. Rechtsmediziner nutzen das beispielsweise, um rauszukriegen, wie lange jemand seiner Erbtante schon Arsen in den Kognak mixt.
Dank feinster Nachweismethoden wird man also wohl auch Glyphosat und Co. finden.
Mikrospuren versus Schadschwelle
Über irgendeine Gefährdung sagt das allerdings gar nichts aus. Potenziell schädliche Substanzen finden sich überall in uns und um uns herum.
Zum Gift macht sie einzig die Dosis. Und die war bei vorangegangenen Aktionen wie dem 2016er „Glyphosat-im-Bier-Skandal“ so lächerlich gering, dass ein Erwachsener täglich etwa 1.000 l Gerstensaft hätte konsumieren müssen, um auch nur annähernd in die Nähe der wissenschaftlichen Schadschwelle zu kommen.
Nicht anders sah es ein Jahr später bei der angeblichen Krebsgefahr durch Eiscreme aus: Da wäre man mit knapp 35.000 Halbliterbechern in den Bereich einer möglichen Schadwirkung gekommen – wäre man nicht vorher erfroren oder geplatzt.
Ergebnisse als anonymer Brei
Aber um Wissenschaft geht’s WHES ja auch nicht, wie wir weiter oben lesen durften. Nur um Stimmung gegen konventionelle Landwirtschaft.
Geld für 270 Tests habe man eingeworben, sagt WHES. Die Ergebnisse fließen ausschließlich anonym (und damit kaum kontrollierbar) in die Statistik – es sei denn, man zahlt freiwillig den vollen Testpreis.
Vor allem für manchen hippen Großstädter dürfte die Anonymität allerdings eine gute Nachricht sein. Mit den Haartests kann man nämlich auch bewusstseinserweiternde Drogen feststellen. Nicht, dass da mal einer was veröffentlicht ...
Nachtrag: Eine Leserin schrieb gerade, dass laut Laborliste gar nicht (mehr) auf Glyphosat getestet wird. Möglicherweise war WHES bei seinem Framing übers Ziel hinausgeschossen. Im Mai jedenfalls wollte der Verein noch den europaweiten Glyphosatausstieg mit den Testergebnissen vorantreiben. Oder hat das Strasbourger Labor inzwischen bemerkt, dass sich Glyphosat doch gar nicht in den Haaren ablagert. Das wäre natürlich schlecht für die geplante Panikmache.
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