Seit Albert Einstein wissen wir: Alles ist relativ – Raum, Zeit, Energie, Materie. Zu Letzterer zählen auch Mensch und Tier. Und auch da hängt die Einordnung sehr vom jeweiligen Blickwinkel ab.
Nehmen wir den Wolf. Laut letzter offizieller Erfassung (2018/19) gibt es in Deutschland 105 Wolfsrudel, 29 Wolfspaare und 11 Einzeltiere, Tendenz rasch steigend. Ein Rudel, so schätzen Experten, besteht im Schnitt aus ungefähr sechs bis sieben Tieren. Macht nach Adam Riese irgendwas zwischen 650 und 800 bestätigten Wölfen hierzulande.
Und hier kommt Einstein ins Spiel: Ob das viele oder wenige sind, hängt davon ab, wen man fragt. Weidetierhalter, Waldkindergartenbetreiber und Bewohner einsamer Gehöfte in Brandenburg, Sachsen oder Niedersachsen halten die Wolfspopulation bereits für viel zu groß; den (meist großstädtischen) Wolfsliebhabern und Tierschützern reicht sie lange noch nicht aus.
Der erste Wolf kam schon bis Berlin
Seit Jahren bereits argumentieren beide Seiten für ihre Sichtweise. Mittlerweile sind jede Menge Gerichte und politische Gremien mit dem Thema befasst. Den Wolf kratzt das alles nicht. Er vermehrt sich munter weiter, reißt Schafe und Kälber – und nimmt immer neue Territorien für sich ein. Im Januar wurde dank Funksender sogar der erste Graupelz in Süd-Berlin ausgemacht.
Dass die Tiere höchst erfolgreiche Kulturfolger sind und in vielen Regionen kaum noch die viel beschworene "natürliche Scheu" zeigen, bestreiten nicht einmal mehr die Wolfsschutzverbände. An ihrer Begeisterung für die Ausdehnung der Population hat das – Weidetierrisse hin oder her – bislang nichts geändert.
Platz für die zehnfache Wolfsanzahl?
Und jetzt gießt das Bundesamt für Naturschutz (BfN) noch mal ordentlich Öl ins Feuer.
In einer Studie, die das BfN bei der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Wolf (DBBW), dem Leibniz Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), der Technischen Universität Berlin, der Humboldt Universität Berlin und dem Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie in Wien in Auftrag gegeben hatte, heißt es, dass in Deutschland "geeigneter Lebensraum" für etwa 700 bis 1.400 Wolfsterritorien vorhanden sei.
Nochmal zum Vergleich: Im Erfassungsjahr 2018/19 kamen wir auf 158 Territorien (Rudel, Paare und Einzeltiere). Und auf weit über 600 bestätigte Übergriffe auf Nutztiere mit mehr als 2.000 getöteten, verletzten oder nach dem Angriff vermissten Tieren.
Alaska lässt grüßen
Erwartungsgemäß sorgte die Studie bei Landwirten für Fassungslosigkeit. Der Deutsche Bauernverband (DBV) reagierte ebenso empört wie diverse Zuchtverbände. Dabei dürfte die DBV-Schätzung, nach der bei einer entsprechenden Territorienbelegung mit 14.000 Einzeltieren zu rechnen sei, ein bisschen hoch gegriffen sein.
Aber selbst wenn man nur durchschnittlich fünf Wölfe pro Territorium veranschlagt (was angesichts der Tatsache, dass ja auch Paare und Einzelgänger Territorien beanspruchen, deutlich realistischer als die Rechnung des DBV erscheint), kämen wir deutschlandweit auf bis zu 7.000 Wölfe.
Um das mal in Relation zu setzen: In Alaska schätzt man die Wolfspopulation auf 5.000 bis 10.000 Individuen. Falls Ihre letzte Jack-London-Verfilmung schon ein bisschen her ist: Alaska liegt in der Tundra, ist bedeckt von Wäldern, Bergen und Seen. Unter den US-Bundesstaaten ist es mit Abstand der größte (gut 1,7 Mio km²) und bevölkerungsärmste (0,41 Einwohner/ km²). Es gibt lediglich 58 Orte mit mehr als 1.000 Einwohnern und Anchorage ist die einzige Großstadt.
Deutschland hat nur gut ein Fünftel der Fläche Alaskas, die 570-fache Einwohnerdichte (233 Einwohner/km²) und 81 Großstädte mit mehr als 100.000 Menschen ... aber laut BfN-Studie Platz für ebenso viele Wölfe wie das Land am Yukon River.
Überall ist Wolfsland?
Nun betont das BfN in seiner Pressemitteilung abschließend: "Die Ergebnisse der Studie besitzen keine Vorhersagekraft und stellen auch keine Zielgröße für eine deutschlandweite Bestandsentwicklung dar, sondern zeigen vielmehr das Potenzial für mögliche Wolfsterritorien in Deutschland auf." Immerhin.
Aber das ist ja auch gar nicht der zentrale Punkt. Für mich ist es viel mehr bestürzend, in welcher Welt das Bundesamt und die von ihm beauftragten Institutionen leben, wenn sie tatsächlich finden, es sei hierzulande Platz für 10.000 Wölfe. Was gilt den Studienerstellern denn als "Wolfsterritorium"? Alles außer Autobahn?
Und wozu dient die Studie, wenn sie keine Zielvorstellung ist? Nun, man darf wohl zumindest getrost davon ausgehen, dass sie bei einem weiteren ungebremsten Wolfsbestandswachstum hierzulande dem einen oder anderen Naturschutzvertreter als Argumentationshilfe dienen soll.
Da kann man eigentlich nur hoffen, dass der jungen Wölfin von Januar noch zahlreiche Artgenossen nach Berlin folgen. Im Innenhof des Bundesumweltministeriums (dem das BfN zugeordnet ist) ist gewiss noch Platz für ein paar Wölfchen ...
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