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Neunjähriger beim Traktorfahren: Weil ein Bauernkind das kann?

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am Donnerstag, 17.03.2022 - 12:14 (22 Kommentare)

Vor drei Wochen arbeitete ein Neunjähriger mit dem elterlichen Traktor auf dem Acker. Voll normal und kein Problem? Die Reaktionen der Bauern lassen diesen Schluss zu. Ich sehe das anders. Ein Kommentar.

Ich habe mir letztens einen Zahn ziehen lassen. Vom neunjährigen Sohn meines Zahnarzts. Hat der Bengel ganz allein gemacht, Papa hat derweil einem anderen Patienten die Krönchen gerichtet. War aber kein Problem. Zahnarztkinder können sowas, sobald sie eine Zange halten können. Und wo der Kleine das doch so gerne macht …

Ein Kind ist kein Zahnarzt

Das alles klingt wahnwitzig und ist es natürlich auch. Nichts davon ist passiert.

Keiner vertraut einem kleinen Jungen sein Gebiss an, lässt ihn mit Spritze und Zange in seinem Mund hantieren – selbst wenn der Knirps das rein technisch schon könnte. Jeder hätte wohl genug Fantasie sich auszumalen, was passieren könnte, wenn etwas nicht wie geplant läuft. Wenn das Kind beim Spritzen die falsche Dosierung erwischt oder mit der Zange abrutscht und die Zunge skalpiert. Wenn der Patient plötzlich blutet wie verrückt oder Kreislaufprobleme kriegt.

Ein Neunjähriger ist noch nicht in der Lage, in solchen Stresssituationen angemessen zu reagieren. Von den Folgen eines Unglücksfalls für seine eigene Psyche gar nicht zu reden.

Ein Kind ist aber auch kein Landwirt

Das alles gilt für jedes Kind – egal, ob schüchtern oder vorlaut, Junge oder Mädchen, Stadt oder Land, Zahnarzt- oder Bauernkind. Und bislang dachte ich, das sieht jeder so.

Doch vor ein paar Wochen wurde ich eines Besseren belehrt. Da machte nämlich folgende Geschichte die Runde: In Bayern bearbeitete ein neunjähriger Junge auf einem Traktor allein ein Feld.

Eine Passantin, die das beobachtete, rief die Polizei. Als letztere sich näherte, machte der Kleine sich buchstäblich vom Acker und flüchtete zurück auf den elterlichen Hof.

Bauern sehen die „Schuld“ bei der Passantin

Eine aufsehenerregende Geschichte, bei der Landwirte in den sozialen Medien allerdings nur eine Schuldige kannten: die dumme Passantin (andere Formulierungen der Kommentatoren schenke ich mir hier), die wohl einfach keine Ahnung hat, dass echte Bauernkinder Traktor fahren können, sobald sie mit ihren Füßen die Pedale erreichen.

Acht Jahre, vier Jahre – wer bietet weniger?

Traktorkind-Kommentare

Alle, wirklich alle Kommentare aus der Bauernblase, die ich entdeckt habe (allein auf unserer Facebookseite gab es weit über 4.000), hatten diesen Grundtenor.

Und einer über- oder besser unterbot dabei den anderen: „Unser Sohn ist mit 8 schon Trecker gefahren“, schrieb einer. Und eine andere: „Ich kenne einen Jungen, der ist schon mit 4 Jahren Traktor gefahren.“

Dazu hätte ich eine Frage an die Betreffenden: Habt Ihr sie noch alle?

Kindliche Fehlreaktionen bei Stress sind normal

Mir ist völlig klar, dass ich mich nicht beliebt mache mit meiner Meinung, aber auch ein Bauernkind ist erstmal nur ein Kind. Ein Neunjähriger mag allein und ohne Aufsicht eine Furche auf dem Feld ziehen können. Er darf es aber nicht. Und das aus gutem Grund, wie die Reaktion des kleinen Traktorfahrers in der Nähe von Augsburg zeigt.

Wenn nämlich etwas Unvorhergesehenes passiert – wie in diesem Falle das Auftauchen der Polizei – trifft ein Kind unüberlegte Entscheidungen. Das liegt an fehlender Lebenserfahrung und der noch nicht ausgebildeten Fähigkeit, Folgen richtig abzuschätzen.

Der Junge hat das getan, was jedes Kind in einer Stressituation tut: Er hat sich ohne nachzudenken zu Papa und Mama geflüchtet.

Lebenserfahrung ist nicht durch „Stallgeruch“ ersetzbar

Es ist das verdammte Recht eines jeden Kindes, weniger zu wissen und zu können als ein Erwachsener, Verantwortung und Entscheidungen abzugeben, seine kognitiven und physischen Fähigkeiten erst allmählich über Jahre hinweg zu entwickeln und mit Lebenserfahrung zu ergänzen – auch wenn es sich selbst für noch so erwachsen hält.

Deswegen darf ein Neunjähriger keine großen Maschinen bedienen, schon gar nicht allein und noch viel weniger im öffentlichen Raum. Und deswegen ist es unfassbar kurzsichtig und überheblich, zu erklären, Städter hätten nur keine Ahnung, was ein Bauernkind alles kann und deshalb darf!

Stadt- und Dorfkinder nicht gegeneinander ausspielen

Dieses „Dorfkinder dürfen das“- und „Stadtkinder sind doof“-Mantra ist ohnehin etwas, was mich immer wieder ärgert.

Die Forderung, Ernst genommen und nicht wegen seiner Herkunft abgewertet zu werden, die viele Eltern gemobbter Landwirtskinder mit Recht stellen, ist nämlich keine Einbahnstraße. Wie wollen wir in der Gesellschaft ernstgenommen werden, wenn wir uns beim Kinderschutz und beim Verkehrsrecht (um nur zwei Beispiele zu nennen) einfach eine Sonderrolle zusammendefinieren und die andere Seite pauschal für blöd erklären?

Reaktionen der Bauern bestimmen Außenwahrnehmung

Der vorliegende Fall ist nicht nur ein Verstoß gegen Gesetze und eine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Interessen des Kindes (auch wenn der kleine Kerl das anders sehen dürfte).

Er ist ein Prüfstein, als wie verantwortungsvoll Bauern in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Und das wiederum hat Auswirkungen auf viele andere Themen, in denen sich Landwirte zu Wort melden.

Der kleine Traktorfahrer hat bei seinem Feldeinsatz keinen Schaden genommen, auch anderen ist nichts passiert. Ob man das von der Außenwirkung dieser Diskussion auch sagen kann, wage ich zu bezweifeln.

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