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Krise der Fleischwirtschaft

Agravis-Chef: Schweineschlachtungen werden um ein Drittel zurückgehen

Schlachtung-Schweine-Toennies
am Donnerstag, 17.11.2022 - 11:19 (26 Kommentare)

Die Produktion von deutschem Schweinefleisch ist im freien Fall. Die Wirtschaft schlägt Alarm. Die Politik schaut zu.

Dr. Dirk Köckler, Vorstandsvorsitzender der Agravis Raiffeisen AG

In Hannover trifft sich in dieser Woche die Veredlungsbranche zur Leitmesse EuroTier. Ein Grund zum Feiern? Mitnichten. Jedenfalls nicht für Sauen- und Schweinehalter. Der wichtigste Zweig der deutschen Fleischproduktion, die Schweinehaltung, steckt tief in der Krise.

Bis Mitte November wurden in Deutschland rund 8,4 Prozent weniger Schweine geschlachtet als im Vorjahr. Das entspricht einem Rückgang um mehr als 3 Millionen Schweine. Und der Abwärtstrend hält Woche für Woche unvermindert an.

„Wir stellen uns auf einen Rückgang um ein weiteres Drittel auf rund 550.000 Schlachtungen pro Woche ein“, sagt der Vorstandschef des Agrarhandelskonzern Agravis, Dr. Dirk Köckler, auf der EuroTier. Zurzeit werden in Deutschland wöchentlich im Durchschnitt 750.000 Schweine geschlachtet. Zwischen 2010 und 2020 waren es regelmäßig über 1 Million pro Woche. Ein Einbruch auf rund eine halbe Million Schlachtungen pro Woche wäre eine Halbierung der Produktion innerhalb weniger Jahre.

Hunderte von Landwirten lassen die Ställe leer

Hunderte von Landwirten, vielleicht schon mehr als tausend, lassen in diesem Jahr die Ställe leer, warnte zu Beginn der EuroTier-Woche Hubert Kelliger, Vorstand im Verband der Fleischwirtschaft (VDF) und Vertriebsleiter des Schlachtunternehmens Westfleisch.

In einem Pressegespräch räumte Kelliger ein, die Schlachtunternehmen könnten den Landwirten nicht das Geld zahlen, dass diese angesichts der steigenden Kosten bräuchten. Viele Tierhalter würden aufgeben, weil sie insolvent seien oder keine Zukunftsperspektive für die Tierhaltung in Deutschland sehen würden.

Selbstversorgung mit Fleisch ist in Gefahr

Westfleisch-Vertriebsleiter und VDF-Vorstand Hubertus Kelliger

Die Konsequenz: „Wir sind jetzt an einem Punkt, da wir uns ausrechnen können, wann wir uns nicht mehr selbst versorgen können, Fleisch zu einem knappen Gut wird und die Regale in den Supermärkten nicht mehr mit in Deutschland produzierten Fleischartikeln gefüllt sind“, sagt Kelliger.

Schon im vergangenen Jahr war der Schweinebestand in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit 25 Jahren gefallen. Und in diesem Jahr geht es voraussichtlich um weitere 10 Prozent nach unten. Köckler zufolge arbeiten die Schlachtbetriebe im Ein-Schicht-Betrieb, obwohl sie aus Gründen der Wirtschaftlichkeit eigentlich einen Zwei-Schicht-Betrieb fahren müssten.

Weitere Konzentration der Fleischindustrie absehbar

Die Überkapazitäten belasten die Fleischindustrie schwer. Das größte deutsche Schlachtunternehmen, die Tönnies-Gruppe, hatte bereits 2021 einen Umsatzrückgang um rund 800 Millionen Euro auf 6,2 Milliarden Euro erlitten.

Die Konkurrenten Westfleisch und Vion mussten Millionenverluste bekanntgeben. Marktbeobachter rechnen daher damit, dass in der Fleischindustrie früher oder später eine weitere Konzentration ansteht.

Aus der Energiekrise in die Ernährungskrise

Die Schuld an der Misere trägt aus Sicht der Wirtschaft die deutsche Politik. Den Tierhaltern würden seit Jahren keine verlässlichen Perspektiven gegeben, kritisiert VDF-Vorstand und Vion-Manager Dr. Gereon Schulze Althoff. Er sieht die Gefahr, dass Deutschland nach der Energiekrise in eine Ernährungskrise rauscht und das Fleisch in deutschen Supermärkten künftig aus Spanien kommt.

„Bundesregierung will die Tierhaltung am liebsten abschaffen“

Die Agrarwirtschaft fordert von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) darum endlich stabile Leitplanken für die Wertschöpfungskette Fleisch.

Hervorragende Vorschläge der Zukunftskommission Landwirtschaft und der Borchert-Kommission lägen auf dem Tisch, erinnert Agravis-Chef Köckler. Doch sie würden nicht umgesetzt, weil es an der Finanzierung hake. Das Ergebnis sei eine „unverantwortliche Erosion der Sauenhaltung in Deutschland“. Das Abwarten der Politik sei alles andere als angemessen, wenn von bäuerlichen Familien über Generationen gepflegte Betriebe zerstört würden.

Womöglich ist das Abwarten gewollt: VDF-Vorstand Kelliger fürchtet, dass die aktuelle Bundesregierung „die Tierhaltung am liebsten abschaffen und die Ernährung in Deutschland auf Gemüse und Haferflocken umstellen“ will.

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