Die Welt ernähren und Ressourcen sparen. Wie soll das gehen? Landwirtschaft braucht Fläche. Äcker lassen sich nicht stapeln. Vielleicht aber doch.
Fast unbemerkt von der traditionellen Landwirtschaft entsteht eine Agrarproduktion auf Basis hochmoderner Technologien. In geschlossenen Systemen werden nahezu abgeschirmt von der Außenwelt Nahrungsmittel erzeugt. Meist findet die Produktion auf künstlichen Nährböden über mehrere Etagen statt. Daher auch der Name: Vertical Farming.
Erfunden hat das Ganze ein Amerikaner, der Biologe Dickson Despommier. Er beschäftigte sich vor zehn Jahren intensiv mit den Problemen der Welternährung im 21. Jahrhundert. Die Herausforderungen sah der Biologie in vier Faktoren: Überbevölkerung, Nahrungsmangel, Megacitys und Klimawandel. Seine Antwort: Ein völlig neues Konzept der Agrarproduktion.
Landwirtschaft neu erfinden
Despommier machte zwei grundlegende Vorschläge. Erstens: In extra zu diesem Zweck erbauten „Wolkenkratzern“ sollten Obst, Gemüse und andere Nutzpflanzen in mehreren Etagen übereinander angebaut werden. So würde auf kleinstem Raum eine bislang nicht gekannte Produktivität erreicht. Zweitens: Durch künstlich geschaffene, optimale Lebensbedingungen könnten die Nutzpflanzen das ganze Jahr über Ertrag bringen und geerntet werden.
Möglich wird dies nach Despommier durch den Einsatz modernster Technologien. So wird etwa Sonnenlicht durch computergesteuerte LED-Lampen ersetzt. Gleichzeitig substituieren Nährstofflösungen den Boden. Damit kann die Versorgung der Pflanzen punktgenau gesteuert werden. Vorteil außerdem: Die Produktion erfolgt äußerst ressourcenschonend. Die Liefer- wege zu Kunden und Verbrauchern sind extrem kurz. In der Regel sind weder chemischer Pflanzenschutz noch zusätzliche Düngung nötig. Das Wetter und das Klima spielen für die Produktion keine Rolle.
Der Markt für Vertical Farming wächst rasend schnell. Marktforscher veranschlagen das jährliche globale Umsatzplus auf 25 Prozent. In Deutschland ist der Boom längst angekommen, wenn auch eine Nummer kleiner als in den USA oder in Japan.
Bereits seit 2013 sind das Berliner Start-up Infarm und die Münchner Firma Agrilution am Markt. Auch das Hamburger Unternehmen Farmers Cut hat bereits einige Erfahrungen. Anders als in den USA oder in Japan dominieren hierzulande dezentrale Konzepte mit Produktionsanlagen direkt bei Einzelhändlern und Großverbrauchern.
Als echte vertikale Indoor-Farm arbeitet die Hamburger Firma Farmers Cut. Über neun Etagen stapeln sich in einer ehe- maligen Lagerhalle viele kleine „Äcker“ wie in einem Hochhaus übereinander. Zur Platz- ersparnis kommt die hohe Produktivität. „Auf dem Feld draußen sind nur ein bis zwei Ernten im Jahr möglich. Wir ernten aber 20-mal“, sagt Geschäftsführer Mark Korzilius. Die Gründer von Farmers Cut sind weder Landwirte noch Botaniker, sondern Betriebswirte.
Alles in der Farm wird digital gesteuert: der Tag- und Nachtrhythmus, die Temperatur und die Luftfeuchte. Die Nährstoffgaben erfolgen exakt dosiert in sparsamer Tröpfchenbewässerung. „Sensoren liefern uns laufend Daten zur Kontrolle“, sagt Korzilius. Für das Pflanzenwohl hat er einen indischen Agrarbiologen vom Max-Planck-Institut eingestellt.
Direkt bei den Verbrauchern
Das schnell wachsende Berliner Start-up Infarm produziert sein Gemüse hingegen direkt bei den Endverbrauchern in Supermärkten oder Restaurants an mehr als 60 Standorten. Infarm betreibt zudem ein eigenes Forschungslabor in Berlin-Spandau.
Osnat Michaeli von Infarm sagt: „Anstatt unsere Produkte zentral in einem großen Lager zu erzeugen, wollten wir unsere Farmen überall in der Stadt verteilen. Dazu mussten die Einheiten klein sein, aber auch effizient genug, um wirklich den Anforderungen von Supermärkten, Restaurants, Schulen oder einem Krankenhaus gerecht zu werden. Im Grunde wollten wir mit Infarm ein Netzwerk von Farmen schaffen, das so nah wie möglich am Endverbraucher produziert.“
„Temperatur und Lichtintensität steuern die Farmen komplett autonom“, erklärt Infarm-Finanzchef Martin Weber das Konzept. „Über Infrarotkameras kontrollieren wir den gesundheitlichen Zustand und das Wachstum der Pflanzen.“ Für die Ernte kommt ein Mitarbeiter von Infarm in die Edeka-Märkte, legt die Pflanzen verkaufsbereit in eine Ablage und setzt direkt neue ein.
Start-ups wie Agrilution aus München und Neofarm aus Hannover verfolgen ähnliche Konzepte wie Infarm. Der Gründer der Münchner Firma Agrilution, Maximilian Lössl, ist überzeugt, „dass dieses neue Konzept in den nächsten zehn Jahren in den dichtbesiedelten Städten nicht mehr wegzudenken ist.“
In den USA läuft die Sache anders: Hier sind die Farmen meist erheblich größer. Sie produzieren wirklich vertikal und in einigen Fällen bereits völlig autonom mit Robotern. Beispiele für den Boom des Vertical Farmings in den USA sind der derzeitige Marktführer AeroFarms aus New Jersey und das außergewöhnlich schnell wachsende Silicon Valley Start-up Plenty.
Plenty hat bereits in mehreren großen US-Städten Fabriken errichtet und will weiter schnell expandieren. Der Chef von Plenty, Matt Barnard, ein ehemaliger Vermögensverwalter, sagt: „Im Vergleich zur konventionellen Landwirtschaft ist die Produktivität bis zu 350-mal höher und es wird nur 1 Prozent des Wassers benötigt.“
In der kontrollierten Innenumgebung gibt es praktisch keine Schädlinge. „Deshalb müssen wir keine Pestizide verwenden“, erklärt Barnard. Außerdem nutzt man Kameras und Sensoren, um Licht, Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu optimieren. „Wir automatisieren den Wachstumsprozess so weit wie möglich“, sagt der Plenty-Boss.
Es gibt außerdem kleine Roboter, sogenannte Schleppers, die die Sämlinge verpflanzen, weil die Türme und Pflanzen so dicht stehen, dass es für einen Menschen schwierig ist, zwischen ihnen zu arbeiten.
Bald in allen großen Städten
Die Branchenführer in den USA betonen, dass die vertikale Landwirtschaft immer lokal und die Lieferkette völlig transparent seien. Die Ernte werde innerhalb weniger Stunden auf den Tisch gebracht. „Dies ist wohl die effizienteste Form der Landwirtschaft in Bezug auf die Produktivität je ausgegebenem Dollar“, ist Barnard überzeugt.
Der Plenty-Chef sagt aber auch: „Das Wachstum in kleinem Maßstab ist nicht profitabel und es gibt viele systemische Gründe, warum sich das nicht ändern wird.“ Das Ziel seines Unternehmens ist es deshalb, große automatisierte „Indoorfarmen“ außerhalb von Städten mit mehr als 1 Mio. Einwohnern zu bauen – insgesamt etwa 500. Allein 300 dieser Farmen entstehen nach Auskunft von Matt Barnard in der Nähe chinesischer Großstädte.
Vor Kurzem gab es in den USA eine große Finanzierungsrunde mit mehr als 200 Mio. US-Dollar Risikokapital für Plenty. Das war der bisher größte Agrar-Tech-Deal überhaupt, berichten Analysten. Unter den Geldgebern sind Jeff Bezos von Amazon, Eric Schmitt von Alphabet (Google) und der Direktor der Batterietechnologie von Tesla, Kurt Kelty. „Ich wollte herausfinden, wo ich zur nächsten großen technologischen Welle beitragen kann“, sagte Kelty.
Einige Analysten sehen Plenty schon als das „Google“ des Vertical Farmings. Die Kosten- und Energiebarrieren, die das Wachstum gebremst haben, bröckeln jedenfalls immer schneller.
Hohe Investitonskosten
Die Vorteile des Vertical Farmings sind genannt. Die Nachteile sind ebenso klar: Es sind die sehr hohen Investitions- und Betriebskosten. Das jährliche Wachstum der Branche von 30 Prozent ist also keine Selbstverständlichkeit. Die Consulting Firma Agritecture rechnet in den großen US- Metropolregionen mit einem Bedarf an Startkapital von mehreren Millionen US-Dollar und zudem mit hohen laufenden Kosten. Das müssen die jungen Unternehmen erst einmal wieder erwirtschaften.
In den USA ist die Landschaft deshalb mit den Leichen von Start-ups des Vertical Farmings übersät. Der Großteil der Kosten entfällt auf die Ausrüstung, die für den Anbau von Pflanzen ohne Erde und Sonnenlicht erforderlich ist: Das sind Heiz- und Kühlsysteme, Belüftung, Beschattung, Mess- und Steuerelemente und LED-Leuchten.
All diese Apparate verursachen eine gewaltige Stromrechnung. Neil Mattson von der Cornel-Universität in den USA sagt aber: „Die besten LED sind bereits 40 Prozent energieeffizienter als 2014“, und der Energieverbrauch sinkt weiter.
Ein weiteres Problem ist, die hochqualifizierten Arbeitskräfte müssen deutlich besser bezahlt werden als Helfer in der konventionellen Landwirtschaft. Erzeugt wird außerdem nur ein überschaubares Sortiment an Produkten, nämlich Gemüse, Obst, Salat und Fisch – und die sind noch erheblich teurer als konventionelle oder Bioware.
Wachstumscode scheint geknackt
Unternehmen wie Plenty und AeroFarms könnten den Wachstumscode jedoch geknackt haben und eine neue Phase der Expansion einleiten. In einem Interview sagte Matt Barnard von Plenty, dass das Unternehmen hoffe, seine Bioprodukte bald zum gleichen Preis wie konventionelle Ware verkaufen zu können. Dafür sollen die Kosten weiter runter, indem die Prozesse so weit wie nur möglich automatisiert werden. Hauptursache hierfür sei die immer billiger werdende Rechenleistung.
US-Investor Bill Gross sagt: „Wenn Sie langfristig niedrige Kosten sicherstellen wollen, ersetzen Sie andere Rohstoffe einfach durch Rechenleistung“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Daten durch Sensoren zu erfassen, diese durch Rechenleistung zu synthetisieren und zur Optimierung von Betriebsabläufen durch maschinelles Lernen zu verwenden. Barnard glaubt: „Die konventionelle Landwirtschaft hat ein Optimierungsproblem. Sie ist mit den Ressourcen außerordentlich verschwenderisch“.
Die Herausforderung für die High-Tech-Farmen besteht darin, genau die Menge an Energie, Wasser und Nährstoffen zu verwenden, die für die Nahrungsmittelproduktion erforderlich ist, und nicht mehr. Das ist mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz möglich. In fünf Jahren wird das Rechnen doppelt so schnell und halb so teurer sein wie jetzt. „Dann ist noch mehr Automatisierung und Optimierung drin“, ist Barnard überzeugt. Damit entsteht der konventionellen Landwirtschaft eine ernsthafte Konkurrenz – ökologisch und ökonomisch.
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