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Zulassungsverfahren

Stau bei Pflanzenschutzmitteln: Wieso dauert die Genehmigung so lange?

Tschiersky-Helmut-bvl-präsident
am Dienstag, 26.02.2019 - 05:00

Die Zulassung von Präparaten wird immer öfters zum Fall für Gerichte. Warum dauert es so lange, bis neue Wirkstoffe auf den Markt kommen? Wir haben Dr. Helmut Tschiersky gefragt, Präsident vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL).

Dr. Helmut Tschiersky ist seit 2008 BVL-Präsident. Der Apotheker, 62, geboren in Bremen, studierte zusätzlich Lebensmittelchemie. Zuvor arbeitete er im Sanitätsdienst der Bundeswehr, war Laborleiter für Arznei-, Lebensmittel, Wasser und Tierseuchen. Unter anderem war er in Bosnien und im Kosovo im Einsatz.

agrarheute: Herr Dr. Tschiersky, die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist aufwändig: Warum dauert es so lange bis zum neuen Produkt?

Tschiersky: Weil das Vorgehen zweistufig läuft: Erst wird in einem EU-Gemeinschaftsverfahren über den Wirkstoff entschieden. Anschließend benötigt jedes einzelne Handelsprodukt eine Zulassung. Die wird von den EU-Mitgliedstaaten zonal erteilt. Für beides sind umfangreiche Studien nötig. So braucht es rund zehn Jahre.

Warum überschreitet Ihre Behörde die von der EU gesetzten Fristen meist so stark?

Das hat viele Gründe. Im deutschen System sind vier Ämter beteiligt. Zudem kam es durch das zonale System und etliche Stichtagsregeln immer wieder zu Spitzen bei den Anträgen. Die führen dann zu einem Rückstau beim Abarbeiten. Nicht zuletzt haben wir in Europa eins der global strengsten Verfahren. Die hohen Anforderungen werden stets an den neusten Stand der Wissenschaft angepasst. Sie zu prüfen, bedarf in jedem Fall größter Sorgfalt.

Sorgfalt ist das eine, Schnelligkeit das andere: Wie ist der aktuelle Stand bei der Bearbeitungsdauer und den Entscheidungen?

2018 haben wir 84 Anträge auf Zulassung bekommen. Davon wurden wir in sieben Fällen als bewertender EU-Staat gewählt. Ich betrachte diese Zahlen mit Sorge. Sie zeigen, dass das Vertrauen der Industrie gering ist, dass ihre Anträge hier berechenbar bewertet werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch 2019 einen großen Teil des Rückstaus abbauen, wenn das Umweltbundesamt (UBA) - wie angekündigt – seine Verzögerungen bis September abbaut...

...das Umweltbundesamt verzögert die Zulassungen?

Na ja, was den Inhalt der Zulassungen anbelangt, bin ich weniger optimistisch. Wenn andere EU-Staaten bewerten, weichen die deutschen Entscheidungen in vielen Fällen ab – besonders aus Umweltgründen. Hier würde ich mir stärkere EU-Harmonisierung wünschen.

Wieso gibt es rund 20 deutsche Modelle, die von den EU-Vorgaben abweichen? Kann das UBA die Risiken nicht wie alle anderen bewerten?

In der Regel bewertet das UBA Risiken ja auch mit EU-abgestimmten Modellen. In besonderen Fällen werden nach UBA-Ansicht aber nationale Besonderheiten nicht genug berücksichtigt. So verwendet es zum Schutz der Umwelt abweichende Modelle. Alle Behörden arbeiten aber daran, die Modelle zu verbessern, um künftig einheitlicher zu bewerten.

Durchkreuzt das Veto vom Umweltbundesamt oft Ihre Pläne?

Unterschiedliche Auffassungen zwischen den Ämtern werden intern diskutiert. Es zählen aber die im Pflanzenschutzgesetz festgelegten Zuständigkeiten. Das Vetorecht führt dazu, dass das UBA die Risikoabschätzung verlässt und dem BVL Maßnahmen vorschreibt, wie die Risiken zu minimieren sind. Das BVL muss das dann umsetzen oder Alternativen finden.

Derzeit gibt es rund 30 Untätigkeitsklagen und Schadensersatzprozesse: Darf es wahr sein, dass immer öfters Gerichte über die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln entscheiden?

Die Zahl schwankt, weil die Zulassung oft im Laufe der Prozesse erteilt wird. Die ganzen Untätigkeitsklagen haben bisher nur zu vier Urteilen geführt. Das waren dann zum Teilfeststellende Urteile. Oder solche, die sich damit auseinandergesetzt haben, ob die Risikominderungsmaßnahmen rechtmäßig sind.

Die Annahme, dass Gerichte häufig über die Zulassung entscheiden, trifft also nicht zu – trotz der hohen Zahl der Verfahren. Schadensersatzprozesse wurden bislang nicht entschieden. Die Prozesse führen aber deutlich vor Augen: die Verfristungen bedeuten messbare Einbußen für die Steuerzahler.

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