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Agrarexperte warnt: Putin wird Hunger als Waffe einsetzen

Getreide in der Ukraine
am Mittwoch, 09.03.2022 - 15:10

Der russische Präsident Putin wird versuchen, Hunger als Waffe einzusetzen, um den Westen zu destabilisieren. Davor warnt der Göttinger Agrarökonom Prof. Stephan von Cramon-Taubadel. Er fordert dringend politische Konsequenzen aus dem Krieg in der Ukraine.

Prof. Dr. Stephan von Cramon-Taubadel

In einer Folgenabschätzung zur russischen Invasion in der Ukraine kommt Cramon-Taubadel zu dem Schluss, dass die Getreideausfuhren des Landes selbst in einem optimistischen Szenario im Wirtschaftsjahr 2022/23 von 64 Millionen Tonnen im Vorjahr um 35 Millionen auf nur noch 29 Millionen Tonnen zurückgehen werden. Das wäre mindestens eine Halbierung der Exporte. Die Weltagrarmärkte haben Anfang März bereits mit einem Anstieg der Getreidepreise auf historische Rekordhöhen reagiert.

Der Göttinger Agrarökonom warnt eindringlich davor, dass die Lebensmittelversorgung von hunderten Millionen Menschen in armen, importabhängigen Ländern gefährdet wird. Besonders betroffen wären Afrika und Südostasien.

Putin wird versuchen, die Migration anzukurbeln

Cramon-Taubadel geht davon aus, dass der „russische Diktator“ versuchen wird, Hunger als Waffe einzusetzen. Putin hoffe darauf, die Migrationsströme anzukurbeln. Getrieben von Ernährungsunsicherheit und Instabilität würden sich die Menschen in Afrika und im Nahen Osten auf den Weg in die EU machen. Das werde die Solidarität der EU schwächen und auflösen.

Putin werde den Westen beschuldigen, Hunger und Ernährungsunsicherheit zu verstärken, prognostiziert der Wirtschaftswissenschaftler. Russland werde sich als rettender Helfer in der Not präsentieren, der aufgrund wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen des Westens aber kein Getreide liefern könne.

EU-Agrarpolitik muss geostrategische Verantwortung wahrnehmen

Für reiche Länder wie Deutschland sieht der Agrarökonom die Versorgungssicherheit nicht in Gefahr. Die Lebensmittelpreise würden steigen, aber die meisten Haushalte könnten sich das leisten, sagt Cramon-Taubadel. Haushalten mit niedrigen Einkommen könnten durch gezielte soziale Hilfen unterstützt werden.

Für die Politik in der EU leitet der Göttinger Agrarexperte klare Empfehlungen ab: Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) muss hinterfragt werden. Die russische Invasion der Ukraine zwinge uns anzuerkennen, dass Agrarpolitik eine geostrategische Dimension habe, unterstreicht Cramon-Taubadel.

Die jüngsten agrarpolitischen Entscheidungen seien – besonders in Deutschland – von einer überwiegend nach innen gerichteten Perspektive geprägt worden. Es gehe aber nicht nur darum, den Wunsch nach einer niedlichen Bilderbuch-Landwirtschaft zu befriedigen. Notwendig sei eine Politik, die die gesamte Landwirtschaft in der EU nachhaltiger und zugleich produktiver mache, statt die Nachhaltigkeit auf Kosten der Produktivität zu verbessern.

Der Ökonom warnt, es wäre unverantwortlich, ein Viertel der EU-Agrarfläche für den Ökolandbau zu nutzen, der mindestens ein Drittel weniger Erträge erbringe, und den Pflanzenschutzeinsatz um die Hälfte zu verringern, was ebenfalls zulasten der Erträge gehe, wenn die Welt auf Jahre hinaus bei Getreide hoffnungslos unterversorgt sei.

Großangelegte Nahrungsmittelhilfe vorbereiten

Cramon-Taubadel fordert die EU-Politik außerdem zu weiteren konkreten Schritten auf:

  • Die EU muss ihren Beitrag vorbereiten zu einer großangelegten, international koordinierten Nahrungsmittelhilfe.
  • Auf einseitige Ausfuhrbeschränkungen, wie sie gerade Ungarn erlassen hat, sollte unbedingt verzichtet werden, um die negativen Marktwirkungen nicht zyklisch zu verstärken und den Hunger zu den Ärmsten „exportieren“.
  • Die Biokraftstoffpolitik soll flexibler gestaltet werden, um vom Öl unabhängiger zu werden. Insbesondere Beimischungszwänge, die unabhängig vom Preisniveau greifen, sollten überdacht werden.

Für die Maisaussaat fehlen Saatgut, Diesel und Arbeitskräfte

Aus Sicht des Agrarwissenschaftlers markiert der russische Angriffskrieg eine neue Phase in der Geschichte. Die Auswirkungen auf Agrarmärkte und die Ernährungssicherheit seien äußerst bedrohlich, warnt Cramon-Taubadel.

Für die kommende Weizenernte in der Ukraine rechnet er mit einem Ertragsrückgang um rund ein Drittel, bei zugleich nachlassender Qualität des Weizens aufgrund der verminderten Stickstoffdüngung. Für die anstehende Maisaussaat fehle es an allen essentiellen Betriebsmitteln vom Saatgut über Diesel bis zur Arbeitskraft. Zudem dürften wahrscheinlich Getreidesilos in den Häfen und Eisenbahnverbindungen zerstört werden, so dass Ausfuhren auf Jahre hinaus erschwert werden.

Russland wird seinen Weizen ernten können, aber nur erschwert vermarkten

Die russische Getreideernte 2022 sieht der Fachmann nicht in Gefahr. Allerdings sei es deutlich weniger sicher, dass Russland in der Lage sein werde, das Getreide über das Schwarze Meer zu verschiffen. Darüber hinaus erschwert der Ausschluss russischer Banken aus dem Zahlungssystem SWIFT den Handel. Seiner Einschätzung nach könnte Russland versuchen, einen Teil der Probleme zu lösen, indem das Getreide über das Kaspische Meer in den Iran und nach Zentralasien oder mit der Eisenbahn nach China geliefert wird. Diese Alternativen könnten aber nicht annähernd die Getreidemengen managen wie die Schwarzmeerhäfen Rostow und Noworossijsk.

Insgesamt rechnet Cramon-Taubadel damit, das die Getreidemärkte selbst unter relativ optimistischen Annahmen mindestens zwei bis drei Jahre extrem angespannt sein werden.