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GAP und Ernährungssicherheit

Deutschland wird zum Geisterfahrer der EU-Agrarpolitik

EU Agrarministerrat Luxemburg
am Freitag, 08.04.2022 - 14:08 (59 Kommentare)

Die Brüsseler Agrarpolitik vollzieht wegen des Ukraine-Krieges gerade einen Kurswechsel. Ernährungssouveränität hat wieder Priorität. Nur Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir zieht dabei nicht mit.

In dieser Woche haben sich die EU-Agrarminister in Luxemburg getroffen. Erneut stand dabei der Krieg in der Ukraine auf der Tagesordnung. Die Folgen der russischen Invasion für die Welt-Agrarmärkte sind immens.

Die EU-Kommission und die große Mehrheit der Mitgliedstaaten versuchen, die negativen Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit und die Lebensmittelpreise zu dämpfen. Dazu wurden bereits mehrere Krisenmaßnahmen beschlossen. Und es zeichnet sich auch ein längerfristiger Kurswechsel von einer vornehmend umweltorientierten zu einer umwelt- und produktionsorientierten Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ab. Doch ein Land sitzt dabei im Bremserhäuschen, und das ist Deutschland.

Bund setzt EU-Option zur Produktionssteigerung nicht um

Janusz Wojciechowski

EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski erinnerte im Agrarrat daran, dass die Mitgliedstaaten in diesem Jahr 4 Millionen Hektar ökologischer Vorrangflächen (ÖVF) für die Lebensmittelproduktion nutzen dürfen. Möglich wird dies durch eine Ausnahmeregelung vom 23. März.

Deutschland hatte sich im EU-Verwaltungsausschuss als einziger Mitgliedstaat gegen diese Ausnahmeregelung ausgesprochen. Einen delegierten Rechtsakt der EU-Kommission können die Mitgliedstaaten aber nicht aufhalten. Bis zum 13. April müssen die Regierungen der Kommission nun mitteilen, ob sie von der Option Gebrauch machen.

In Deutschland fiel die Entscheidung heute dagegen aus: Die ÖVF werden hierzulande nur zur Futternutzung freigegeben. Das hat Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) durchgesetzt.

Deutschland auf einem Sonderweg

Deutschland beschreitet damit einen Sonderweg. Frankreich gab seine 300.000 Hektar schon Ende März per Dekret für den Getreideanbau frei, einschließlich des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln. Die Greening-Prämie wird dadurch nicht gefährdet. Die Flächen werden weiterhin als brach liegend gezählt, sowohl als ökologische Vorrangflächen als auch für die Fruchtfolge.

Auch unser östlicher Nachbar Polen will die Bracheflächen für die Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln freigeben. Ebenso handelt Spanien. Die spanischen Bauern dürfen 600.000 Hektar zusätzlich bestellen. Italien tendiert dem Vernehmen nach ebenso zur Freigabe.

Mehrheit für Abschaffung der 4 Prozent Brache formiert sich

Doch auch längerfristige agrarpolitische Konsequenzen des Ukraine-Krieges zeichnen sich in Brüssel ab. Die EVP-Fraktion im Europaparlament hat sich für eine Aussetzung der Verpflichtung zur Stilllegung von 4 Prozent der Ackerflächen im Rahmen der Konditionalität ab 2023 ausgesprochen.

EU-Agrarkommissar Wojciechowski will das bekanntlich prüfen. Rumänien und Irland unterstützten die Forderung diese Woche im Agrarrat.

Bundesminister Özdemir stemmt sich jedoch auch hier dagegen. Er setzt darauf, mehr Agrarrohstoffe für die Produktion von Lebensmitteln zu verwenden statt für Futtermittel und Biokraftstoff.

Länder fordern Freigabe der ELER-Mittel

Dabei denken andere Mitgliedstaaten längst weiter und fordern zusätzliche flexible Maßnahmen. Auf Initiative von Kroatiens Landwirtschaftsministerin Marija Vučković forderten insgesamt 13 Mitgliedstaaten im EU-Agrarrat jetzt die Freigabe von Mitteln der zweiten Säule der GAP zur Unterstützung der Landwirte, die extreme Kostensteigerungen bei Diesel, Mineraldünger und anderen Betriebsmitteln zu verkraften haben. Verfügbare Restmittel aus der Förderung der ländlichen Entwicklung sollten zu diesem Zweck umgewidmet werden können.

Frankreich will Produktionsziele für die EU-Landwirtschaft festlegen

Frankreichs Landwirtschaftsminister Julien Denormandie

Frankreichs Landwirtschaftsminister Julien Denormandie, der im ersten Halbjahr den Vorsitz im EU-Agrarrat innehat, hob die Diskussion über den agrarpolitischen Kurs der EU auf eine höhere Ebene.

Denormandie schlug seinen Ministerkollegen gestern vor, Produktionsziele für die europäische Landwirtschaft festzulegen. „Was wäre, wenn die EU noch abhängiger wird von russischen Agrareinfuhren?“, warnte Denormandie.

Der Franzose forderte, die politische Vision der GAP um Ernährungssouveränität und Unabhängigkeit zu ergänzen. Der im Green Deal verankerte Wandel der Landwirtschaft zu mehr Schutz von Klima, Umwelt und Natur müsse um die zusätzliche Vision einer gesicherten Lebens- und Futtermittelproduktion ergänzt werden.

„Produzieren und Schützen“ nannte Denormandie das Gebot der Stunde. In Berlin stößt dieser Appell auf taube Ohren.

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