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Agrar- und Umweltpolitik in der EU

Green Deal: Chance oder Generalangriff auf Europas Landwirte?

Frau mit Europaflagge auf einem Stoppelfeld
am Donnerstag, 10.06.2021 - 13:50 (1 Kommentar)

Über den europäischen Green Deal als gute oder schlechte Perspektive für die Landwirtschaft diskutierten heute (10.06.) die Gäste der digitalen Genius-Sondersitzung Agrar. Einigkeit bestand unter den Interessenvertretern aus Landwirtschaft, Umweltschutz, Politik und Agrarchemie immerhin darin, dass Landwirte für Umweltleistungen entlohnt werden müssen.

Im Mittelpunkt der Sondersitzung Agrar stand die Frage „Grüne Deal = Guter Deal für die Landwirtschaft?“. Dass Landwirte für das Mehr an ökologischen Leistungen angemessen honoriert werden müssen, ist von allen Diskussionsteilnehmern bekräftigt worden. Außer Frage stand ebenfalls, dass die Ideen und Strategien aus Europa nun in konkrete Gesetzesvorschläge münden müssen.

Wie Robert Gampfer von der Ständigen Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin zunächst erläuterte, sei in der Landwirtschaft die Senkung der Treibhausgasemissionen besonders schwierig. Daher stünden hier andere Ziele im Vordergrund, insbesondere die Farm-to-Fork-Strategie, die folgende Ziele beinhalte:

  • ein nachhaltiges, sicheres und gesundes Ernährungssystem
  • die Eindämmung des Klimawandels
  • die Artenvielfalt
  • eine faire Wertschöpfungskette
  • 25 Prozent Ökolandbau bis 2030

Neben Robert Gampfer führten die Diskussion Dr. Simon Schlüter, Leiter des Brüsseler Büros im Deutschen Bauernverband (DBV), Konstantin Kreiser vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) und Max Müller, Leiter des Bereichs Unternehmenskommunikation bei der Bayer AG.

Neue Dimension der politischen Regulierung

Die Aussage des DBV-Präsidenten Joachim Rukwied, der Green Deal sei ein Generalangriff auf die europäische Landwirtschaft, verteidigte Simon Schlüter in der Diskussion. Schon immer habe die Landwirtschaft mit politischer Regulierung umgehen müssen. Es sei nun aber eine neue Geschwindigkeit erreicht worden und Aussichten für eine Abfederung der Maßnahmen fehlten. Das daraus entstandene Ungleichgewicht verleihe dem Konzept einen Reduktions- und keinen Kompromisscharakter. Es müssten noch viele konkrete Antworten gefunden werden, sagte Schlüter.

Robert Gampfer bestätigte, dass die europäische Gesetzgebung konkrete Maßnahmen erst noch ausarbeiten müsse. Die Farm-to-Fork-Strategie sei noch „eine große Baustelle“. Es stünde jedoch nicht zu befürchten, dass die Maßnahmen in zu hoher Geschwindigkeit umgesetzt werden müssten. Während die Strategie eventuell etwas zu überhastet beschlossen wurde, werde sich die europäische Politik für die Einzelmaßnahmen ausreichend Zeit nehmen.

NABU: GAP müsste für Abfederung sorgen

Konstantin Kreiser vom NABU stimmte der Forderung nach Sorgfalt bei der Ausarbeitung der Gesetze zu. Nach seiner Auffassung sollten die Mittel aus der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) als Instrument für die soziale Abfederung genutzt werden. Dass es zwischen der GAP und dem Green Deal keine Verknüpfung gebe, liege am Einfluss der landwirtschaftlichen Interessenvertretung, so Kreiser.

Laut Kreiser sei die derzeitige Agrarpolitik innovationsfeindlich. Trotzdem müsse bedacht werden, dass sich weniger Ertrag und mehr Ernährungssicherheit nicht zwangsweise ausschließen. Vom NABU werde der Green Deal voll und ganz unterstützt.

Innovation und Technologie nutzen

Max Müller von der Bayer AG wies darauf hin, dass anstatt Verzichtsdebatten die Nutzung von Innovation und Technologie weiterhelfen würden. Die Reduktionsziele des Green Deal deckten sich mit der Nachhaltigkeitsstrategie der Bayer AG; der Konzern wolle den politischen Prozess konstruktiv begleiten.

Dabei sei es wichtig, eine nachhaltige Intensivierung voranzutreiben, ohne die ökologische und konventionelle Landwirtschaft gegeneinander auszuspielen. Eine große Chance bestehe in der Nutzung der Gentechnologie.

Die neuen Züchtungsmethoden als Werkzeug nutzen, um den Herausforderungen gerecht zu werden, will auch Simon Schlüter. Er wies auf den wachsenden Schädlingsdruck, die Reduzierung der Wirkstoffe bei den Pflanzenschutzmitteln und die zunehmenden Wetterextreme hin.

Verbraucher und Politik in die Pflicht nehmen

Die Notwendigkeit eines bewussteren Konsums und ein geändertes Verbraucherverhalten unterstrichen Robert Gampfer und Konstantin Kreiser. Der Leiter des Bereichs EU-Naturschutzpolitik des NABU merkte jedoch an, dass weder den Verbrauchern noch Landwirten ein ökonomisches Verhalten zum Vorwurf gemacht werden könne. Hier seien politische Rahmenbedingungen nötig.

Dass Landwirte mit Agrarumweltleistungen Geld verdienen sollen, wurde bis zum Ende der Diskussionsrunde einstimmig gefordert.

Mehrere Stimmen aus Wissenschaft und Verbänden unterstützen per Video-Statement den Aufruf nach mehr Unterstützung für die betroffenen Bereiche. So forderte beispielsweise der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter verlässliche und langfristig angelegte Rahmenbedingungen bei der Umsetzung des Green Deal. Außerdem bestehe ein großer Handlungsbedarf bei der Anwendung der neuen Züchtungsmethoden. Diese Auffassung teilte der Deutsche Raiffeisenverband, der bei den Plänen der Europäischen Kommission an einigen Stellen das Augenmaß vermisste – beispielsweise bei den Reduktionszielen für Pflanzenschutz- und Düngemittel.

Studie: Pflanzliche Produktion würde um 10 Prozent zurückgehen

Dass der Green Deal erhebliche ökonomische Folgen für die Landwirtschaft haben könnte, prognostizierten Wissenschaftler von der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Studie geht von einem Rückgang von zehn Prozent in der pflanzlichen Produktion aus, wenn der Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie nach jetzigem Stand umgesetzt werden würden. Durch die Ausweitung des Ökolandbaus auf 25 Prozent und die Reduzierung des Dünge- und Pflanzenschutzmitteleinsatzes würde sich der Ertrag verringern, erläuterte Prof. Rainer Kühl.

Außerdem würde der Deckungsbeitrag im konventionellen Ackerbau bei konstanten Preisen über alle Kulturen hinweg voraussichtlich um rund 40 Euro/ha sinken.

Weiterhin hätten der Green Deal und die Farm-to-Fork-Strategie einen erhöhten Investitionsbedarf von 3,1 Mrd. Euro sowie einen steigenden Importbedarf zur Folge. Der steigende Import berge die Gefahr direkter und indirekter Landnutzungsänderungen und damit den möglichen „Export von Umweltproblemen“.

Darüber hinaus werde sich durch die größeren Flächen für den Ökolandbau der Anteil an Bioprodukten vergrößern. Dadurch könnten einerseits wünschenswerte Skaleneffekte in der Wertschöpfungskette und andererseits Preisdruck durch Überangebote entstehen. 

Nach den Empfehlungen von Kühl müsse den Konsequenzen entweder mit Importbarrieren zum Schutz des EU-Marktes vor Waren mit niedrigeren Umweltstandards mit finanziellen Kompensationen für die Landwirte begegnet werden. Letztlich müsse der Agrarhaushalt über die Steuereinnahmen angepasst werden. 

Mit Material von AgE

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