
Ich lebe in Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mich am Ende meines Lebens im schlimmsten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg wiederfinden würde. Und ich habe nicht die Absicht, Kiew oder gar die Ukraine in dieser kritischen Zeit zu verlassen.
Im Moment bin ich sicher. Ich wohne am linken Ufer des Flusses Dnipro in einer sogenannten „Schlafstadt“, ein reines Wohngebiet ohne nahe gelegene Industrie- oder Militärobjekte, etwa 10 Kilometer östlich der Innenstadt. Es besteht also ein eher geringes Risiko, dass dieses Gebiet absichtlich bombardiert wird.
Im Moment ist die Situation schwierig. Die Kämpfe gehen entlang der gesamten Nord-, Ost- und Südgrenze der Ukraine weiter. Russische Truppen versuchen, wichtige Städte wie Kiew, Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Cherson und Mykolajiw zu erobern. Nach dem gescheiterten Blitzkrieg waren die Russen gezwungen, ihre Pläne zu ändern. Sie versuchen nun, diese Städte einzukreisen, um eine Belagerung zu errichten.
Es gibt Berichte, dass die 60 Kilometer lange Kolonne der russischen Panzer, gepanzerten Fahrzeuge und Treibstofftanker nur etwa 20 Kilometer von Kiew entfernt ist. Sie bewegen sich angeblich wegen einer gesprengten Brücke nicht (Anmerkung d. Red.: das war der Stand vom Abend des 1. März).
Die russische Wirtschaft wird zusammenbrechen
Die Menschen sind entschlossen, die Ukraine wie verrückt bis zu ihrem letzten Atemzug zu verteidigen. Und genau aus diesem Grund hat Putin Kiew nicht wie erwartet in 12 Stunden eingenommen.
Laut einigen ukrainischen Militäranalysten könnten die russischen Angriffe höchstens noch eine Woche dauern. Der Grund liegt in der Knappheit von Treibstoff, Munition, Lebensmitteln usw. Friedensverhandlungen haben bereits begonnen, auch wenn die erste Runde absolut ergebnislos war.
Aber da das Ziel der russischen Truppen in ein paar Tagen noch nicht erreicht sein wird, wird es sicherlich ein zweites Treffen geben und das Ergebnis wird positiver sein. Unter den strengen westlichen Sanktionen wird die russische Wirtschaft in ein paar Monaten zusammenbrechen.
Der Krieg trifft die Tierhalter innerhalb der Landwirtschaft am stärksten

Es gibt keine Informationen über das Ausmaß des Schadens, der dem Agribusiness zugefügt wurde. Es gibt nur vereinzelte Berichte über Probleme. Beispielsweise wurde eine Molkerei im Oblast Charkiw geschlossen, nicht wegen einiger Schäden, sondern weil das Personal, das hauptsächlich aus Bewohnern der umliegenden Dörfer bestand, nicht mehr verfügbar war. So mussten Betriebsleiter Rohmilch und verarbeitete Milchprodukte mit kurzer Haltbarkeit kostenlos abgeben.
Ein weiterer Bericht besagt, dass es auf einer Pferdezucht kein Futter mehr gibt und die Tiere verhungern. Die Tierhaltung ist also vielleicht der am stärksten betroffene Sektor der Landwirtschaft. Einige Nutztierbestände befinden sich in den besetzten Gebieten und sind von Verarbeitungsbetrieben abgeschnitten. Die Verarbeiter wiederum sind von Verbrauchern und Märkten abgeschnitten. In manchen Gegenden gibt es logistische Probleme wegen beschädigter Straßen und zerstörter Brücken. Die Situation ist also zumindest in den Kampfzonen düster.
Die Häfen sind geschlossen, der Getreideexport ruht

Von der gesamten Getreideernte von 107 Millionen Tonnen des vergangenen Jahres hat die Ukraine vor der russischen Invasion etwa 40 Millionen Tonnen exportiert. Nach früheren Prognosen plante die Ukraine, 2021/22 rund 45 Millionen Tonnen Getreide auszuführen.
Im Moment sind alle ukrainischen Häfen geschlossen. Im Hafen von Cherson werden fünf ukrainische und zwölf ausländische Schiffe blockiert. Im Hafen von Mykolajiw liegen 17 blockierte ausländische Schiffe. Das bedeutet, dass etwa 5 Millionen Tonnen Getreide irgendwo ohne Aussicht auf Export feststecken. Und die Häfen werden sicherlich nicht geöffnet, bis der Krieg vorbei ist.
Ein Handelsunternehmen kündigte an, sein Hafenterminal zu zerstören, falls Russland die Südukraine besetzt. Hier ist also noch ein weiterer Faktor zu berücksichtigen: in welchem Zustand wird die Hafeninfrastruktur nach Kriegsende sein?
Vor der russischen Invasion planten die ukrainischen Agrarbetriebe bis zu 120 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten zu erzeugen. Das muss nun sehr bezweifelt werden. Selbst wenn Russland ukrainische Seehäfen eingenommen haben sollte, werden sie nicht in Betrieb gehen können, da es sicherlich ein internationales Embargo für Lieferungen aus diesen Häfen geben wird.
Große Unsicherheit über die Frühjahrsaussaat
Die Aussaat von Sommerweizen beginnt in der Ukraine typischerweise Mitte März. Andere Hauptkulturen werden im April gesät, Zuckerrüben im Mai. Der Winter war dieses Jahr ungewöhnlich kurz und warm. Die Aussaat hätte also noch früher beginnen können. Aber die russische Invasion brachte eine Menge Unsicherheit in alles hinein.
Die landwirtschaftliche Produktion im Krieg wird von einer Reihe von Faktoren abhängen:
- Wie lange wird der Krieg dauern?
- Welche Gebiete und Regionen werden unter russische Kontrolle fallen?
- Wird die Versorgung mit Betriebsmitteln, zum Beispiel Kraftstoff, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel gelingen?
- Wie sind die infrastrukturellen Bedingungen, also Straßen, Eisenbahnen, Terminals, Speicheranlagen?
- Werden Erzeuger Kredit erhalten?
- Werden jetzt geschlossene ukrainische Häfen wieder in Betrieb genommen, und wenn ja, wann?
- Wird es genügend Arbeitskräfte geben?
Ukraine bezieht ihr Rohöl größtenteils aus Russland

Man muss beachten, dass die Russen versuchen, die Versorgung mit Benzin, Kerosin und Diesel zu zerstören, um dem ukrainischen Militär Schaden zuzufügen. Denken Sie auch daran, dass die Ukraine den größten Teil des Rohöls aus Russland bezieht. Daher sind alle Beteiligten im Agribusiness einer großen Unsicherheit ausgesetzt.
Man kann nur hoffen, dass nicht das gesamte Territorium der Ukraine unter russische Besatzung fällt, sodass es Regionen geben wird, die ausreichend sicher sind, um die landwirtschaftliche Produktion fortzusetzen. Man kann durchaus argumentieren, dass die Westukraine und vielleicht große Teile der Zentral- und möglicherweise Südukraine nicht besetzt werden. Auf jeden Fall bedeutet dies, dass zumindest die Inlandsnachfrage befriedigt wird.
Falls einige Waren für den Export verfügbar sein werden und die ukrainischen Seehäfen noch geschlossen sein sollten, besteht eine Option für den Handel über Rumänien und Polen. Dieser Weg ist jedoch erheblich teurer und zeitaufwändiger.
Einige Lebensmittel wurden bereits rationiert
Da russische Truppen versuchen, Großstädte zu umzingeln und von der Nahrungsversorgung abzuschneiden, stellt sich die Frage: Wird es genug Nahrung für die Stadtbewohner geben? Im Moment behaupten die Behörden, dass es zumindest bei Grundnahrungsmitteln wie Brot, Nudeln und Pflanzenölen genug Vorräte für die Stadtbevölkerung gibt. Einige Lebensmittel werden aber jetzt rationiert. Die Lebensmittelpreise sind stabil. Die Behörden werten „unbegründete Preiserhöhungen“ als Sabotage. Zigaretten sind Mangelware.
Die Behörden behaupten auch, dass es genügend Medikamente in Krankenhäusern und Apotheken gibt. Aber es gibt lange Schlangen von Menschen, die versuchen, wichtige Medikamente und Verbände zu kaufen.
Zumindest in Großstädten einschließlich Kiew gibt es noch funktionierende Versorgungseinrichtungen: Strom, Leitungswasser, Kanalisation, Mobilfunk, Internet. Es gibt Berichte, dass russische Truppen in besetzten Gebieten Geschäfte, Banken und Zivilisten plündern. Ukrainische Mobilfunkbetreiber haben das Roaming nach Russland gesperrt. Also begannen russische Truppen, Handys von Zivilisten zu beschlagnahmen, um zu Hause anzurufen.
Geschäfte und leerstehende Wohnungen werden geplündert
In Kiew ist der Verkauf von Alkohol inzwischen verboten. Die Ausgangssperre gilt von 19:00 bis 8:00 Uhr. Öffentliche Verkehrsmittel verkehren, aber unregelmäßig. Die unterirdischen U-Bahn-Stationen werden rund um die Uhr als Schutzräume genutzt. Die russische Luftwaffe griff den Fernsehturm mit mindestens zwei Raketen an. Fünf Menschen wurden getötet.
Es gibt Berichte über Plünderungen. Kürzlich hat die Staatssicherheit eine Gruppe von Plünderern erwischt, die versuchte, den internationalen Flughafen „Kiew“ auszurauben. Herumtreiber plündern auch Geschäfte sowie Häuser und Wohnungen von Menschen, die Kiew verlassen haben. Es gibt eine beträchtliche Anzahl solcher Berichte aus der ganzen Ukraine.
"Russland wird zerfallen"

Die Ukraine wird unabhängig vom Ausgang dieses Krieges definitiv unabhängig sein. Russland hat bereits verloren.
Selbst wenn die Ukraine den Krieg verloren haben wird, wird der Zusammenbruch Russlands unter den internationalen Sanktionen auch kurzfristig unvermeidlich sein. Russland wird in eine Reihe unabhängiger Staaten zerfallen und die Ukraine wird wieder ihre Unabhängigkeit wiederherstellen.
Was die Ukraine in dieser Situation am dringendsten braucht, sind mehr Waffen und eine weitere Erdrosselung der russischen Wirtschaft mit allen möglichen Sanktionen.
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