Dr. Björn Börgermann, Geschäftsführer des Milchindustrieverbandes, hat derzeit wenig Geduld für die Bundesregierung. Zwar habe es in er ersten Juliwoche einen runden Tisch mit Bundesnetzagentur und Bundeslandwirtschaftsministerium gegeben, wie die Ernährungswirtschaft im Falle eines russisches Gaslieferstopps bei der Gaszuteilung bedacht werden solle. Doch außer einem Austausch von Dringlichkeiten und Positionen sei nicht viel herausgekommen. Börgermann kritisiert: „Es hilft uns nichts, wenn Ende September oder im Oktober ein Fahrplan auf Basis einer Abfrage bei Unternehmen entwickelt wird. Es sollten vorher Szenarien vorliegen, wenn Deutschland eine bestimmte Menge Gas fehlt und nicht nur Regelungen zum Preismanagement.“
Warum braucht die Milchwirtschaft schnell Klarheit bei der Gaszuteilung?
Besonders hoch ist der Zeitdruck für die Milchwirtschaft, weil nach Abschluss der Wartungen am Donnerstag, den 21. Juli, die Nordstream 1 Pipeline wieder russisches Gas nach Deutschland liefern soll. Dann müsste eine Phase geplanter Wartungsarbeiten abgeschlossen sein. Ob das freilich geschieht, ist ungewiss. Doch selbst wenn das Erdgas aus Russland wieder wie vertraglich vereinbart fließt - angesichts des russischen Kriegs gegen die Ukraine ist ungewiss, wie stabil die Lieferungen aus dem Land Wladimir Putins mittelfristig sein werden.
Wie abhängig sind deutsche Molkereien von russischem Erdgas?
Die Molkereiwirtschaft ist ein großer Abnehmer von Gas in der deutschen Ernährungswirtschaft . In den vergangenen Jahren hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Börgermann erklärt: „Wer in den letzten Jahren investiert hat, hat auf Gas gesetzt.“ Zwar können nach wie vor manche Molkereien auf Heizöl als Energieträger setzen, z.B. weil sie als Backup noch vorhanden ist.. Doch die Lage ist kompliziert: Abgesehen von Fragen der Emissionen, der Verfügbarkeit, dem Lagervolumen und dem Preis von Öl, seien diese Molkereistandorte überall auf Deutschland verteilt. Eine norddeutsche Molkerei könne aus logistischen und prozessbedingten Gründen nicht automatisch Milch aus Süddeutschland verarbeiten - oder umgekehrt.
Können erneuerbare Energien die Energielücke der Molkereien bei einem Gaslieferstopp schließen?
Erneuerbare Energien sind für deutsche Molkereien kein vollwertiger Ersatz für Gas oder Öl. Börgermann sagt, dass weder die notwendigen Mengen verfügbar seien noch überall die Anschlüsse vorhanden wären, um die entsprechende Energie aus Photovoltaik, Wind- oder Bioenergie nutzen zu können.
Welche Molkereien können bei einem Gaslieferstopp weiter produzieren?
Laut Milchindustrie-Verband kann man nicht eindeutig sagen, welche Molkerei bei einem Gaslieferstopp weiter produzieren kann. Bei größeren Molkereistandorte mit einer installierten elektrischen Leistung ab 10 Megawatt gab es bislang eine gezielte Abfrage, so Börgermann. Doch ob dieses Privileg zum Tragen komme, hänge auch davon ab, in welchem Gasnetz sich der Molkereistandort befindet. Sollten am gleichen Netz geschützte Kunden wie regionale Krankenhäuser hängen, könne die Gasversorgung unter Umständen nicht garantiert werden. Grundsätzlich hätten Molkereien in größeren Netzen in dichtbesiedelten Regionen aber bessere Aussichten bei einem Gaslieferstopp mit weniger Einschränkungen produzieren zu können als solche in kleinen Netzen in der Peripherie Deutschlands.
Was können Molkereien bei einem Gaslieferstopp tun?
Sollte kein oder nur noch sehr wenig Gas aus Russland fließen, müssen die deutschen Molkereien ihre Produktion so umstellen, dass sie mit möglichst wenig Energie die größte Wertschöpfung erzielen. Das sagt Börgermann, verweist aber auch darauf, dass niemand in der Milchwirtschaft für sich allein stehe. Er erklärt: „Wenn wegen eines Gaslieferstopps weniger Joghurt hergestellt werden können, kann eine Molkerei möglicherweise einzelne Sorten aus der Produktpalette nehmen. Doch wenn es keine Verpackungen mehr gibt, hilft es auch nichts, wenn die Molkerei noch Joghurt produzieren könnte.“ Auch werden bereits heute viele Milchrohstoffe zwischen den Molkereien gehandelt. Sicher könne die Branche einige Ausfälle ausgleichen, doch wo genau diese auftreten und wie schwerwiegend sie sein werden, könne noch niemand genau sagen.
Wie viele Milchbäuerinnen und Milchbauern werden von einem Gaslieferstopp betroffen sein?
Wie viele der rund 54.000 Milcherzeuger in Deutschland von einem Gaslieferstopp betroffen sein werden, kann man im Juli 2022 noch nicht mit Gewissheit sagen. Darauf verweist Börgermann, sagt aber auch, dass ein sehr großer Teil der Milchbäuerinnen und Milchbauern die Auswirkungen eines Gaslieferstopps direkt oder indirekt zu spüren bekommen werde. In letzter Konsequenz können Molkereien keine Milch mehr annehmen. Doch auch schon davor könne es Auswirkungen geben, wenn etwa Molkereien weniger Milch verarbeiten können oder Produktionskosten stiegen, weil Lieferketten in der Milchwirtschaft umstrukturiert werden müssten.
Ist das Milchgeld bei einem Gaslieferstopp sicher?
Ob und wann Milcherzeuger einen Gaslieferstopp auf ihrer Milchgeldabrechnung spüren werden, hängt in erster Linie von ihren Lieferverträgen mit den Molkereien ab. Doch wer keine oder weniger Milch verarbeiten könne, könne auch nicht mehr so viel ausbezahlen wie früher. Entscheidend sei sowohl bei genossenschaftlichen als auch privaten Molkereien was vereinbart ist. Die Frage der „höheren Gewalt“ sei dann gesondert zu klären.
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